Was der große österreichische Schriftsteller Alfred Polgar (1873–1955), selbst Flüchtling vor den Nazis, 1938 schrieb, gilt auch für manche Reaktionen nach der afghanischen Tragödie: "Flüchtlinge in Menge, besonders wenn sie kein Geld haben, stellen ohne Zweifel die Länder, in denen sie Zuflucht suchen, vor heikle materielle, soziale und moralische Probleme. Deshalb beschäftigen sich internationale Verhandlungen, einberufen, um die Frage zu erörtern: ‚Wie schützt man die Flüchtlinge‘, vor allem mit der Frage: ‚Wie schützen wir uns vor ihnen?‘."

Man weist zu Recht darauf hin, dass der Versuch, in Afghanistan eine westliche Demokratie zu etablieren, langfristig unvermeidlich scheitern musste.

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US-Soldaten an einem Checkpoint beim Flughafen in Kabul.
Foto: REUTERS

Nach 2000 Milliarden US-Dollar Kosten und nach tausenden toten US-Soldaten war die Entscheidung des Präsidenten Joe Biden richtig, der Verstrickung in ein aussichtsloses und von der Mehrheit der Öffentlichkeit abgelehntes Abenteuer ein Ende zu setzen. Doch der überstürzte, unüberlegte und mit den Verbündeten nicht abgesprochene Abzug war nicht nur ein schwerer politischer Fehler. Er bedeutet die ernsthafte Gefährdung jener Afghanen – Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Frauenrechtlerinnen, Künstler –, die den internationalen Truppen und Organisationen geholfen haben.

Moralische Verpflichtung

Wie der angesehene britische Entwicklungsökonom Paul Collier in einem lesenswerten Interview im STANDARD feststellte, habe der Westen eine moralische Verpflichtung gegenüber diesen Menschen und zur Unterstützung der Nachbarländer, sodass es für sie vorteilhaft sein solle, Flüchtlinge aufzunehmen. In diesem Sinne äußerte sich auch der bekannte österreichische Migrationsexperte Gerald Knaus, Leiter der European Stability Initiative (Berlin), am Samstag im Ö1-Mittagsjournal. Er verurteilte außerordentlich scharf die von Innenminister Karl Nehammer geforderten Abschiebungen und die Abschiebezentren in Nachbarländern als absurd und verglich die Haltung der österreichischen Regierung – "kein Signal, niemand nehmen" – mit der Politik der rechtsextremen AfD in Deutschland. Sein Hinweis auf Deutschland, wo sich mit Ausnahme der AfD alle Parteien für die Aufnahme gefährdeter Afghanen ausgesprochen hätten, trifft ins Schwarze.

Die Angst der Regierung, überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen, wohl auch angesichts der bevorstehenden oberösterreichischen Landtagswahlen, ist anscheinend so groß, dass sie alles überschattet und den Blick auf das Wesentliche verstellt: Es geht nicht um Hunderttausende auf dem Weg, sondern um eine überschaubare Zahl durch die Taliban besonders gefährdeter Menschen. Dass sich gerade jenes Österreich, das zwischen 1956 und 2015 unzählige Ungarn und Polen, Tschechen und Slowaken, Serben und Kroaten, Bosnier und Albaner ohne viel Federlesens aufgenommen hat, in einer internationalen Krisensituation als Land ohne ein Minimum an Solidarität erweist, hätte ich bis vor kurzem für unvorstellbar gehalten.

Bei allem Verständnis für Vorsicht und differenzierten Umgang mit Afghanen bedeutet die pauschale Ablehnung der Aufnahme schutzbedürftiger Menschen einen folgenschweren Bruch mit der humanistischen Tradition der Zweiten Republik. (Paul Lendvai, 24.8.2021)