Problematische Mutter-Tochter-Beziehung: Julia Koschitz als Mira (links) und Ulrike Willenbacher als ihre Mutter Ingeborg.

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Bestsellerautor und Psychiater Reinhard Haller (links).

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In einem Einkaufszentrum bricht Panik aus, es fallen Schüsse, die Situation ist unübersichtlich. Man ahnt, hier passiert gerade etwas, das für manche Menschen das Ende ihres gewohnten Lebens bedeutet. Womöglich für einige auch den Tod.

Bereits der Beginn der sechsteiligen Serie Die Macht der Kränkung – zu sehen ab 29. August in Doppelfolgen im Hauptabend von ORF 2 und ab Dienstag, 24. August, um 21.45 Uhr auf ZDF neo – macht klar, dass dieses Ende kein schönes sein wird. In sechs Folgen lernen wir verschiedene Menschen immer besser kennen, bei einem oder einer von ihnen führen tiefsitzende, unbearbeitete Kränkungen zum gewaltsamen Ausbruch. Bei wem, das wissen wir vorerst nicht.

Buch von Reinhard Haller

Basis für die Serie ist der Sachbuch-Bestseller Die Macht der Kränkung des Gerichtspsychiaters Reinhard Haller. Drehbuchautorin Agnes Pluch verwob die Figuren und deren Handlungen geschickt miteinander, das Einkaufszentrum ist der Anker der Geschichte, dort treffen ganz unterschiedliche Menschen aller Altersgruppen oder Gesellschaftsschichten aufeinander. Regie führte Umut Dağ.

Doch wem traut man einen Anschlag zu? Bei wem sitzen Kränkungen und Verletzungen so tief, dass sich diese Gefühle einen Weg nach außen bahnen müssen und zur Katastrophe mit schrecklichen Konsequenzen führen? Das sind die Fragen, die sich Folge für Folge auftun und diese Serie – neben ihren psychologischen Aspekten – auch zu einem spannenden Krimi machen.

Da wäre etwa Georg (Murathan Muslu), dessen Beziehung mit seiner blinden Frau Eva (Antje Traue) in einer tiefen Krise steckt, der Probleme mit seinem Kollegen hat und seinen Wunschjob nicht bekommt. Oder die Alleinerzieherin und Ärztin Sarah (Johanna Wokalek), die finanziell kaum über die Runden kommt und um ihre Kinder kämpfen muss. Es könnte aber auch der jugendliche Lorenz (Jonas Holdenrieder) sein, der immer wieder um Anerkennung kämpft und von seiner kriminellen Vergangenheit eingeholt wird. Oder ist es doch Mira? Nach außen ist Mira – gespielt von Julia Koschitz (Das Sacher, Balanceakt, Tatort) – eine selbstbewusste Karrierefrau, erfolgreich, berechnend, in Wirklichkeit aber ist sie sehr verletzlich. Schon als Kind wurde sie von ihren Eltern unter Druck gesetzt, die in ihr ein großes Klaviertalent sahen. Jetzt setzt sie sich vor allem selbst unter Druck.

Kränkungen verstehen

"Sie ist eine Frau, die Liebe mit Bestätigung verwechselt, die eigentlich nichts anderes will als für das, was sie ist, geliebt zu werden und nicht, wie schon als Kind, für das, was sie kann, Bestätigung zu bekommen. Und obwohl sie ihr Dilemma erkennt, schafft sie es nicht, über ihre Kränkungen zu sprechen. Das wäre das Einzige, was ihr helfen würde", sagt Koschitz über ihre Rolle. Und wie geht sie selbst mit Kränkungen um? "Ich versuche immer, alles zu verstehen. Auch mich. Wenn ich gekränkt werde, versuche ich zu verstehen, was der oder die andere mir damit sagen will, ob ich sie oder ihn vielleicht provoziert habe. Ich versuche einzuschätzen, ob ich gerade überreagiere, ob ich mit einem speziellen Thema getriggert wurde, was mein Gegenüber ja nicht wissen kann, und ob es einen Weg gibt, konstruktiv mit der Situation umzugehen".

Kann die fiktive Serie für das Thema Kränkungen sensibilisieren? "Ich denke, das kann sie gut, je nachdem wie man schaut. Wenn man den Fokus auf die Spannung und den Krimi legt, dann vielleicht weniger", so Koschitz, "wenn man sich aber auf die unterschiedlichen Figuren und deren Schicksale konzentriert, bietet die Serie eine gute Möglichkeit, die Dynamik zu hinterfragen, wie man in eine Endlosschleife geraten kann, wenn man nach einer Kränkung unreflektiert mit einer Verletzung zurückschlägt. Und damit eine Dynamik auslöst, die einen dauerhaft belastet oder im schlimmsten Fall sogar gefährlich werden kann." Ein Beispiel dafür sei Mira in ihrer nicht gelösten Mutter-Tochter-Beziehung. "Wenn man immer wieder auf bestimmte neuralgische Punkte mit einem Gegenangriff reagiert, wird diese Beziehung schwierig bleiben. Das verschließt Wege, um einander positiv zu begegnen."

Gelassenheit als Ziel

Der Sachbuchautor und Psychiater Reinhard Haller war in die Produktion eingebunden, spielt auch selbst in einer kleinen Gastrolle einen Gerichtspsychiater. Dass sein Buch die Basis für eine fiktive Dramaserie sein soll, sah er anfangs ambivalent. "Ich dachte, dass es sehr schwierig ist, das Wesen der Kränkung in einer fiktiven Serie darzustellen."

Mit der Umsetzung ist er sehr zufrieden, "für mich ist Verbrechen Psychologie pur. Alle Probleme, die wir in unserem Alltag haben – etwa Neid, Eifersucht, Zorn, Wut oder mangelnde Wertschätzung –, kommen in Verbrechen in ganz konzentrierter Form zum Ausdruck." Aber natürlich wird nicht jeder Gekränkte zum Amokläufer, das sei sozusagen "die Spitze des Eisberges".

Kränkung greife unsere Selbstachtung und unsere Werte an. Und sie schmerzt vor allem dann, wenn einem der Absender nahesteht, "darum tun Kränkungen in der Ehe sehr weh, weil sie von einem Menschen kommen, der einem sehr wichtig ist oder zumindest einmal war". Aber Kränkungen können auch etwas Lehrreiches sein. Haller: "Es gibt Menschen, die haben das Glück, dass sie Kränkung als Faktor der Persönlichkeitsentwicklung betrachten. Und dann zu dem kommen, das wir Psychotherapeuten immer anstreben: Gelassenheit." (Astrid Ebenführer, 24.8.2021)