Joe Biden mitten in der ersten großen Krise seiner Präsidentschaft.

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Die Reise war lange geplant, ihre Symbolik nicht zu übersehen. Sie sollte für den Schwenk hin zu den Wachstumsregionen Asiens stehen, in denen es aus Sicht der Amerikaner mehr zu gewinnen gibt als in den undankbaren Konfliktgebieten des Nahen Ostens oder am Hindukusch. Kamala Harris ist nach Singapur geflogen, von dort geht es weiter nach Vietnam, in der vagen Hoffnung, der aufstrebenden Supermacht China ein regionales, proamerikanisches Zweckbündnis entgegenzusetzen.

Die Vizepräsidentin, deren Mutter aus Indien stammt, will unterstreichen, wie ernst es dem Kabinett Joe Bidens mit der Hinwendung zum indopazifischen Raum ist. Mit einem Kurs, den einst schon der Präsident Barack Obama abgesteckt hatte, wobei zwischen Theorie und Praxis zuweilen eine breite Lücke klaffte. So wie auch jetzt.

Denn überschattet wird Harris' Trip von den schockierenden Szenen, die sich rings um den Flughafen von Kabul abspielen. Was ist schiefgelaufen? Was tut das Weiße Haus, um das Chaos wenigstens jetzt in den Griff zu kriegen? Das sind die Fragen, die in Washington interessieren. Fragen, denen sich auch Harris stellen musste. Auch am Montag in Singapur. "Kein Zweifel, es sollte und es wird eine robuste Analyse dessen geben, was geschehen ist", gestand sie zu. Im Moment aber, so versuchte sich die Demokratin aus Kalifornien in der Ablenkung von der heftig einprasselnden Kritik, konzentriere man sich allein darauf, amerikanische Bürger zu evakuieren – "sowie Afghanen, die mit uns gearbeitet haben, die in Gefahr schweben, einschließlich Frauen und Kinder".

Fehlerdiskussionen ja, aber bitte später! Jetzt, im Wettlauf gegen die Uhr, gilt es, noch Schlimmeres zu verhindern: Ungefähr so lässt sich zusammenfassen, wie Joe Biden und seine Berater argumentieren, um aus der Defensive zu kommen und den Schaden für das eigene Ansehen zu begrenzen. "Es wird eine Rechenschaftspflicht geben", sagt der Außenminister Antony Blinken. "Aber alles zu seiner Zeit." Momentan sei nichts wichtiger als die Evakuierung.

Zivile Fluglinien zwangsverpflichtet

Seit Sonntag nimmt das Weiße Haus zivile Fluggesellschaften in die Pflicht, damit sie den logistischen Kraftakt unterstützen. Sechs US-Fluglinien – American Airlines, Delta, United, Atlas, Omni und Hawaiian – haben insgesamt 18 Passagiermaschinen zu stellen. Der Befehl soll dazu beitragen, einen Stau aufzulösen. Flogen amerikanische Militärtransporter Menschen aus Kabul aus, steuerten sie bislang in aller Regel die Luftwaffenbasis Al-Udeid im Golfstaat Katar an. Dort aber mangelte es an geeigneten Maschinen für den Weiterflug, was das Tempo der Evakuierung aus Kabul verlangsamte. Nun hofft die Regierung Biden, das Nadelöhr zu beseitigen, indem sie zivile Linien verpflichtet, den Weitertransport von Katar, aber auch von Bahrain aus zu übernehmen. Das US-Militär wiederum soll sich ganz auf die Route von der afghanischen Hauptstadt zu den Stützpunkten am Golf konzentrieren.

Er sehe keinen Grund, das bisherige Tempo der Evakuierung nicht beibehalten zu können, hatte Biden am Sonntag erklärt. Seinen Angaben zufolge fliegen die Vereinigten Staaten aktuell innerhalb von 24 Stunden rund 3.900 Menschen aus Kabul aus, so viele wie alle anderen Nationen zusammengenommen. Indem der Präsident betonte, dass er den Einsatz erst dann als beendet betrachtet, wenn alle amerikanischen Staatsangehörigen Afghanistan verlassen haben, sofern sie dies wünschen, deutete er eine mögliche Verschiebung der Abzugsfrist an. Nach dem ursprünglichen Zeitplan sollte der letzte GI spätestens am 31. August zurückgekehrt sein, sollten danach nur noch ein paar Marineinfanteristen das Gelände der US-Botschaft bewachen.

Nun, da es keinen Plan mehr gibt, der nicht Makulatur ist, vermeidet es Biden, sich auf ein konkretes Datum festzulegen. Vermeiden will er allerdings auch, dass sein eilends an den Hindukusch beordertes Krisenkontingent in Kampfhandlungen mit den Taliban verwickelt wird.

Nächstes Desaster lauert schon

Es läuft wohl auf harte, schwierige Verhandlungen hinaus – oder aber auf das nächste Desaster. Die Taliban, anfangs konziliant, haben für den Fall eines verzögerten Abzugs mit Konsequenzen gedroht. "Wenn die Vereinigten Staaten oder Großbritannien mehr Zeit verlangen, um die Evakuierung fortzusetzen, ist die Antwort ein Nein", sagte Suhail Schaheen, ein Sprecher der Islamisten, am Montag dem britischen Sender Sky News. Das Datum 31. August sei eine rote Linie.

In Gesprächen mit Vertretern der siegreichen Miliz versuchen Bidens Emissäre, Garantien auszuhandeln, nach denen vorerst in Afghanistan verbliebene Amerikaner sicheres Geleit zum Hamid Karzai International Airport bekommen – zu einem Flughafen, zu dem sie auf Anraten ihrer Regierung nicht mehr auf eigene Faust fahren sollen. Jake Sullivan, Bidens Sicherheitsberater, hatte vor der "akuten" Gefahr von Anschlägen durch Terroristen des "Islamischen Staats" gewarnt.

Wie US-Medien berichten, war es zuletzt der Botschafter Katars, eines zwischen Washington und den Taliban vermittelnden Landes, der kleinere Gruppen von Amerikanern von Sammelpunkten in Kabul zum Flughafen eskortierte. Schätzungen zufolge halten sich noch bis zu 15.000 US-Bürger in Afghanistan auf. Rund 3.000 wurden seit der Flucht des ehemaligen Staatschefs Ashraf Ghani ausgeflogen. Ob Biden daran denkt, anstelle eines Diplomaten aus Katar verstärkt das eigene Militär einzusetzen, damit Landsleute noch rechtzeitig zur Rollbahn gebracht werden können, ließ er offen.

Republikanerin weiß es besser

Mit den Radikalislamisten verhandeln, um praktikable Lösungen für die noch zu Evakuierenden zu finden: Konservative Hardliner sehen schon darin das Eingeständnis amerikanischer Schwäche. Sie warnen, in den Worten Nikki Haleys, einer Republikanerin, die sich Chancen auf die Präsidentschaftskandidatur ausrechnet, vor der Anerkennung eines Regimes, "das nur Verachtung und Isolation verdient". Die Taliban des Jahres 2021 unterschieden sich kaum von den Taliban des Jahres 2001, schreibt Haley, bis vor drei Jahren Botschafterin bei den Vereinten Nationen, in einem Gastbeitrag für die "Washington Post". Amerika solle ihnen die Anerkennung verweigern, bis sie – "über viele Jahre hinweg" – bewiesen hätten, dass sie Teil der zivilisierten Welt seien. (Frank Herrmann aus Washington, 23.8.2021)