Das Innenministerium wollte den Fall nicht kommentieren.

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Es war ein langer Prozess, der am Dienstag seinen endgültigen Abschluss hätte finden können: 2013 kam Frau I. mit ihren beiden Kindern nach Österreich und beantragte Asyl. Der Antrag – und auch alle danach eingebrachten Folgeanträge – wurde abgelehnt. Auch ihr Ex-Mann beantragte Asyl, auch das wurde abgelehnt. I. bekam in Österreich zwei weitere Kinder, von ihrem Mann lebt sie mittlerweile getrennt.

Dann aber sollte die mittlerweile alleinerziehende Mutter mit ihren vier Kindern abgeschoben werden. Am Vortag waren sie noch in Schubhaft, Dienstagfrüh sollte der Flieger nach Nigeria gehen. Doch letztlich betraten sie diesen nicht. Das teilte der Anwalt der Familie mit. Details dazu sowie die rechtliche Grundlage sind noch nicht bekannt.

Am Montagnachmittag wurde nach Angaben des Anwalts ein neuer Asylantrag gestellt, in dem darauf hingewiesen wird, welche Gefahren es in Nigeria gebe, die vor allem auf den autistischen Sohn warten.

Gefahr für Sohn

Auf diese bezog sich auch die Kritik, die in den Tagen zuvor laut geworden war: Zuvorderst wurden die Gefahr und die fehlende Perspektive für den ältesten Sohn ins Treffen geführt. Laut einem Gutachten, das dem STANDARD vorliegt, weist sein Verhalten auf die Diagnose "frühkindlicher Autismus" hin. Seine Kommunikation und sein soziales Verhalten seien eingeschränkt. Seine Lehrerin berichtet, dass er "Eins zu eins"-Betreuung brauche. Zudem weise sein Verhalten auf frühkindliche Traumatisierungen durch die Flucht hin.

Die Familie unternahm in den letzten Jahren mehrere Versuche, in Österreich bleiben zu können. 2014 wurde der erste Antrag abgelehnt, auch das Bundesverwaltungsgericht prüfte den Fall mehrmals. Zu einer Abschiebung kam es jedoch nicht – bis jetzt. Wie in vergangenen Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts nachzulesen ist, brachte die Mutter in der Vergangenheit als Asylgründe etwa vor, dass sie wegen ihres (mittlerweile offenbar verstorbenen) Vaters, der an Voodoo-Zauberei glaube, Angst um ihr Leben habe. Zudem befürchte sie, dass ihren Töchtern Beschneidung drohe, sollten sie nach Nigeria zurückkehren müssen. Auch die fehlenden Betreuungsmöglichkeiten für ihren älteren Sohn, der unter Entwicklungsstörungen leide, waren Thema, allerdings war nie von einer konkreten Autismus-Diagnose die Rede. Im jüngsten Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts heißt es, dass die Familie nach Nigeria zurückkehren könne und dort nicht in eine existenzbedrohende Lage geraten würde.

Anwalt sieht neue Gründe

Rechtsanwalt Klammer glaubte daher, dass die Diagnose die Sachlage auch aus rechtlicher Sicht ändert. In die vergangenen Entscheidungen sei diese Diagnose noch nicht eingeflossen. "Der Sohn ist in Nigeria gefährdet. Autismus wird als Geisteskrankheit gesehen, er würde dort persönlich verfolgt werden." Dass Menschen mit geistiger Behinderung in Nigeria Nachteile erleiden, sei "flächendeckend zu sehen". Auch von der eigenen Familie, die besonders verstrickt in Dinge wie Teufelsaustreibungen sei, würde konkrete Gefahr ausgehen.

In den letzten beiden Jahren habe sich der Zustand des Sohnes außerdem verschlechtert. Klammer verweist darauf, dass es "kein Lippenbekenntnis vom Staat" sein dürfe, dass das Kindeswohl in derartigen Entscheidungen vorrangig betrachtet werden müsse. Ein Kinderpsychologe solle bestellt werden und sich die Situation genauer anschauen.

Im erwähnten Diagnosebefund der klinischen Psychologin ist zu lesen: "Ein unbefristetes Aufenthaltsrecht für die Familie wäre der erste unumgängliche Schritt, um die Familie zu entlasten." Ein neuerlicher Ortswechsel für den Buben wäre eine große Hürde und könne retraumatisierend wirken. Das Kindeswohl müsse bei Anzeichen geänderter Umstände "bis zuletzt" geprüft werden können, hieß es kürzlich seitens der von Irmgard Griss geleiteten Kindeswohlkommission.

Sonderschule setzt sich ein

Für die Familie eingesetzt hat sich auch die Schuldirektorin des betroffenen Buben, Elisabeth Erker. Der Bub besucht eine Sonderschule. "Wir waren alles sprachlos", sagt Erker, man sei am Wochenende über die bevorstehende Abschiebung informiert worden. Der Bub, den sie seit mehreren Jahren kenne, bedürfe "ständiger Beaufsichtigung", er sei "mehrfach beeinträchtigt". Wieso gab es die Autismusdiagnose erst so spät? Zuerst sei er wegen der Sprachbarriere – er sprach vor allem Englisch – als außerordentlicher Schüler eingeschult worden. "Für uns war aber sehr schnell klar, dass da mehr dahintersteckt als die Sprachbarriere", sagt Erker. Man habe eine Testung des Kindes immer wieder angeregt, im Mai vergangenen Jahres sei schließlich erhöhter Förderbedarf festgestellt worden. Im Juni dieses Jahres folgte dann die bereits erwähnte Autismusdiagnose.

Die Pläne haben auch politische Kritik ausgelöst. Neos-Asylsprecherin Stephanie Krisper kündigte eine parlamentarische Anfrage an Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) an. "Offenbar schreckt die Bundesregierung nicht einmal mehr davor zurück, schwerbehinderte Kinder abzuschieben. Dass hier nicht auf den individuellen Fall eingegangen wird und wieder menschenrechtswidrig gegen das Kindeswohl verstoßen wird, ist unerträglich und darf in einem Rechtsstaat einfach nicht sein." Die NGO Fairness Asyl forderte ebenfalls, die Abschiebung zu stoppen und humanitäres Bleiberecht zu gewähren. SOS Mitmensch forderte dasselbe.

Vom Innenministerium heißt es zu dem Fall: "Charterrückführungen oder Details betreffend rückzuführender Personen werden seitens des BMI im Vorfeld weder 'angekündigt' noch verifiziert oder falsifiziert. Das würde jegliche Planungen für die zwangsweise Außerlandesbringung von Personen, die trotz einer rechtskräftig negativen Entscheidung und einer Ausreiseverpflichtung Österreich nicht freiwillig verlassen haben, obsolet machen." (Vanessa Gaigg, 24.8.2021)