"Waunn ma wos sogt (…) is‘ ma jo glei‘ a Nazi, a Faschist, a Antisemit und ois. Oiso do is‘ am besten, ma is‘ ruhig", meint 1999 ein aufgeregter Mann mittleren Alters im 10. Wiener Gemeindebezirk, seinen Unmut über die Untätigkeit der Politik hinsichtlich seiner Lebensbedingungen unter Migranten und Migrantinnen äußernd1.

Bevor sich Elizabeth T. Spira ab 1997 zusätzlich der populär gewordenen Vermittlungssendung Liebesg'schichten und Heiratssachen zuwandte, produzierte die vor zwei Jahren verstorbene Wiener Fernsehjournalistin zwischen 1985 und 2005 insgesamt 60 Folgen der im ORF ausgestrahlten Sozialreportage Alltagsgeschichte. Das Konzept dieses Formats bestand darin, Menschen in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen zu präsentieren und diesen eine Plattform zu bieten, um ihre Lebensumstände zu kommentieren, Freuden zu teilen, aber auch Unzufriedenheit und Ärger über aktuelle politische und gesellschaftliche Gegebenheiten zu artikulieren.

In einem von der Stadt Wien (MA 7 – Kultur, Wissenschafts- und Forschungsförderung) geförderten Projekt wird aktuell am Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Klagenfurt (CMC) untersucht, ob und wie sich diese öffentlichen Stellungnahmen im Laufe der Zeit gewandelt haben. Der Fokus liegt dabei auf Schilderungen über als "Fremdes" oder "Anderes" titulierte, sei es im Kontext von rassistischen, antisemitischen, sexistischen oder klassen- beziehungsweise schichtfeindlichen, Zuschreibungen. Wenn auch in Elizabeth T. Spiras Sozialreportagen facettenreiche Darstellungen von unterschiedlichen gesellschaftlich brisanten Themen Platz gefunden haben und beforscht wurden, soll hier ein Teilaspekt Einblicke in die Studie geben.

Verschiebungen des Sagbaren

Die 20 Sendungsjahre stehen vor dem Hintergrund massiver gesellschaftlicher und politischer Veränderungen: Man denke etwa an die Waldheim-Affäre (1986), die Jugoslawienkriege (1991-1999), den Beitritt Österreichs zur EU (1995), bis hin zur ersten schwarz-blauen Regierungsbildung (ab 1999) unter Wolfgang Schüssel samt folgender internationaler Kritik wie Verhängung von Sanktionen gegen Österreich aufgrund der Regierungsbeteiligung der rechtspopulistischen FPÖ unter Jörg Haider. Unter diesen Vorzeichen interessieren sich die Forschenden für die "Grenzverschiebungen des Sagbaren". Was also schnaubte oder lobte Ende der 1980er-Jahre die österreichische Bevölkerung bedenkenlos in die Kamera, was in den frühen 2000ern? Und umgekehrt: Welche Themen wollte man in welchen Jahren womöglich angedeutet, aber nicht öffentlich ausgesprochen haben?

Die zeithistorische Einbettung legt eine allmähliche Umformung von öffentlich artikulierten Feindbildern nahe. Gesellschaftlich einschneidend war etwa die Debatte, die nach der Wahl Waldheims zum Bundespräsidenten aufgrund seiner – im Wahlkampf verschwiegenen – Beteiligung als Offizier in Hitlers Wehrmacht geführt wurde. Als bedeutsam gilt dabei auch die Rede von Bundeskanzler Franz Vranitzky an der Hebräischen Universität in Jerusalem am 9. Juni 1993, worin erstmals die Mitschuld österreichischer Staatsbürger und Staatsbürgerinnen an den NS-Verbrechen von offizieller Stelle eingestanden wurde. Unter solchen Vorzeichen erschien es nun auch im alltäglichen Diskurs kaum mehr angebracht, antisemitische Äußerungen abzusondern. Konsequent folgte die Konstruktion von öffentlichen Feindbildern, die Migranten und Migrantinnen ins Visier nahmen. Damit einhergehend stellt sich die Frage, ob es unter anderem aus diesem Grund in den wortreichen Stellungnahmen von Interviewten im Rahmen der Alltagsgeschichte zu einer Verschiebung von Antisemitismus zu Islamophobie gekommen ist. "Und aufpassen (...) net uns vergessen! Net in Allah, Frau Schpira! (...) Uns a, net in Allah! (...) De brauch‘ma net!", mahnt etwa ein Favoritener eindringlich ein2.

"Am Stammtisch" wurde erst 2016 ausgestrahlt, fast 30 Jahre nach der Aufnahme.
Foto: ORF

"Die Unsrigen" und "die Ausländer"

Erste Ergebnisse der ÖAW-Studie bestätigen und erweitern die Annahme, dass in früheren Folgen das Thema Antisemitismus – insbesondere im Zusammenhang mit persönlichen Kriegserinnerungen während der Waldheim-Affäre – eine wesentliche Rolle spielte. Dabei konnten drei dominierende Aspekte von antisemitischen Äußerungen herausgearbeitet werden: erstens eine historisch und religiös begründete Naturalisierung (zum Beispiel der Verweis auf mittelalterliche Beispiele von Verfolgung von Jüdinnen und Juden, um antisemitische Verbrechen als historische Normalität darzustellen), zweitens eine Opfer-Täter-Umkehr (das heißt offene Schuldzuweisung an Jüdinnen und Juden an antisemitischen Verbrechen) sowie drittens eine kollektive Entschuldigung von NS-Kriegsverbrechen. Eine besondere Rolle dabei nimmt die Folge "Am Stammtisch" von 1988 ein, worin Kriegsveteranen das in ihren Augen skandalöse Vorgehen von Medien und Politik gegen Waldheim diskutierten. Die unverblümte Art und Weise der Gespräche ließ bei den damaligen Verantwortlichen im ORF offenbar die Alarmglocken läuten: Die Ausstrahlung der Folge wurde verhindert. Erst 2016, 28 Jahre später, wurde Am Stammtisch gezeigt.

Diese Folge macht aber auch deutlich, dass in der fortschreitenden Schaffung des neuen Feindbilds "Migrant" und dem parallel stetigen Zurückdrängen öffentlich geäußerter antisemitischer Tiraden die Generationenfrage einen wichtigen Stellenwert bekommt. Überboten sich die Veteranen mit antisemitischen Stereotypen, griffen die Jüngeren auf rechtspopulistische Stellungnahmen jener Zeit zurück. Auch Harald Fiedler zitiert in seinem Artikel im STANDARD anlässlich der Erstausstrahlung dieser Folge interviewte Mitglieder des Sparvereins "Punschkrapferl" in Wien-Leopoldstadt mit den Worten: "Es sind ja schon mehr Ausländer da als Unsrige. I hab prinzipiell gegen die Ausländer was."3 Auch diese Äußerung ist ein Kind ihrer Zeit.

Die Thematisierung – und gleichzeitig Problematisierung – von "wir und die anderen" ist ganz klar rechtspopulistischer Rhetorik zuzuschreiben. Haider war es noch ein Anliegen, beide Seiten, beide Generationen zu bedienen, paradigmatisch mit dem ihn sein Amt kostenden Sager von der "ordentlichen Beschäftigungspolitik": Verständnis und scheinbare Unterstützung für die jungen Arbeitslosen und im selben Augenblick ein wissendes Zwinkern in Richtung der alten Nazis. Mit dem (formalen) Rückzug Haiders nach Kärnten und der Regierungsbeteiligung der FPÖ wurde das "Wir" immer mehr zu den "Unsrigen" im Sinne von "Österreicher und Österreicherinnen", was schließlich zur absurden Situation führte, dass "Ausländer und Ausländerinnen" mit österreichischer Staatsbürgerschaft sich zu den "Unsrigen" zählten und in die Parolen der Rechtspopulisten und Rechtspopulistinnen einstimmten: "Wann unsere hat keine Arbeit, für wos brauch ma die andere do?"4 (Christian Oggolder, Christina Krakovsky, 26.8.2021)