Die Perfomerin Denise Palmieri, Teil des Sodom-Vienna-Kollektivs, wird beim queeren Circus Sodomelli die Direktorin und Moderatorin geben.

Foto: Sodom Vienna

An Wissen um die Historie des Zirkus mangelt es Birgit Peter, die das Thema am Institut für Theaterwissenschaft beforscht, nicht. Neben einem fundierten Abriss über diese Parallelwelt im Zelt (wobei das Zelt erst später zum System "moderner Zirkus" dazukam) seit 1800 hat Peter aber auch ein paar gute Anekdoten parat. Etwa die Geschichte der im 19. Jahrhundert berühmten Miss Ella, einer Kunstreiterin mit erstaunlichen artistischen Fähigkeiten und einer guten Portion Sexappeal, die weltweit tourte – zumindest bis herauskam, dass Miss Ella eigentlich ein Mann war. Und da sind wir auch schon in mediis rebus.

Das aktivistische Kollektiv Sodom Vienna unter der Leitung des Dramaturgen Gin Müller wird auf dem ÖBB-Gelände neben dem Brut Nordwest zweimalig einen queeren Zirkus veranstalten und hat dazu auch einige andere Performerinnen und Performer aus dem queer-feministischen Kunstumfeld eingeladen, die jeweils eine Nummer präsentieren. Und so darf man sich an den schwulen Tigern Sigrid und Toy, die vom Künstlerduo Peter Kozek und Thomas Hörl gespielt werden, und Peter als Dompteuse erfreuen, eine Menschenpyramide bestehend aus dem Männer-Chearleading-Kollektiv Fearleaders Vienna oder feministischen Athletinnen bestaunen, sich vor einem BDSM-Horrorclown fürchten und allerhand "perverse Attraktionen" genießen, wie es dem Anlass entsprechend schön saftig im Pressetext heißt.

Bewundertes Anders-Sein

Nun geht es aber weniger darum, mit dem Projekt Menschen vor den Kopf zu stoßen, die Zirkus heute eher als Bespaßung kleiner Kinder wahrnehmen, sondern eher darum, daran zu erinnern, was Zirkusleute – siehe die Ella-Anekdote – einmal waren und teilweise auch noch sind: eine Gemeinschaft von Menschen, die nicht so recht in die Mehrheitsgesellschaft passen wollten und von ihr trotzdem bewundert wurden. Ein Ort, an dem Androgynität und ein gewisses Spiel mit Identitäten Platz hatten, an dem es "Potenzial zur Selbstermächtigung ohne bürgerliche Biografie gab und du nur aufgrund deiner körperlichen Gewandtheit oder deines Einfallsreichtums ein Superstar werden konntest", so Peter.

Natürlich war im Zirkus nicht nur alles eitel Wonne – Menschenhandel, "Freak"-Shows, Exotismus und Rassismus konnte man im Laufe der Geschichte da gut haben, erklärt Peter. Beim Circus Sodomelli aber nicht. Dort soll lustvolle Unterhaltung für alle im Vordergrund stehen, so wünscht es sich Gin Müller.

Leider kommt der Zirkus nur zweimal zur Aufführung – wer mehr von Sodom Vienna sehen möchte, darf sich immerhin auf November freuen, wenn die Sodom Vienna Revue im Brut Nordwest stattfindet und sich mit dem Roten Wien in den hedonistischen 1920ern beschäftigt. Das wird auch sehr queer, aber ohne Menschentiger! (Amira Ben Saoud, 25.8.2021)