Erhielt für seine Darstellung des alten, weißen, bürgerlichen Patriarchen den Oscar: Anthony Hopkins als das hochmütige Subjekt unabwendbaren Verfalls.

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Anthony ist ein alleinstehender Greis mit fortschreitender Demenz und wird von seiner Tochter Anne umsorgt. Er schätzt die Oper, guten Whiskey und seine Londoner Wohnung, in der er seit 30 Jahren lebt. Die ist allerdings anders als in seiner Erinnerung – und plötzlich sitzt im Wohnzimmer ein Fremder und behauptet, dass er Annes Ehemann sei und hier lebe. Doch hat Anne Anthony nicht eben erst davon überzeugen wollen, in eine Pflegeeinrichtung zu übersiedeln, damit sie einer neuen Liebe wegen nach Paris ziehen kann?

The Father, das Filmdebüt des französischen Dramatikers Florian Zeller, ist Verwirrspiel und ausgefeiltes Kammerspiel in einem. Anthonys demenzgetrübte Perspektive stellt die Verlässlichkeit von Erinnerung, von nachvollziehbarer raumzeitlicher Chronologie infrage. Dieser Kontrollverlust macht Anthony wütend, und er kämpft gegen das an, worüber er noch Kontrolle hat: die Pflegerinnen und die Tochter, die seine Verletzungen mit wässrigem Blick erträgt. In welchem Zeitraum sich das abspielt, ist schwer einzuschätzen – es könnten Wochen, Monate oder Jahre sein.

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Zeit wird filmisch vor allem über die Montage vermittelt, und Editor Yorgos Lamprimos gelingt es meisterlich, Anthonys bedrückenden Verfall visuell erfahrbar zu machen. Indem er im Schnitt die Zeitebenen verschmelzen und die sich beständig verändernden Raumkonstellationen nahtlos ineinander übergehen lässt, rettet er The Father außerdem vor dem drohenden Schicksal, eine zu textlastige Bühnenadaption zu sein. Bemerkenswert ist ebenfalls die Oscar-nominierte Ausstattung, in der die Inneneinrichtung des Apartments beständig variiert, wodurch Anthonys Orientierungslosigkeit direkt greifbar wird.

Auch die Besetzung ist Teil des Verwirrspiels. Anne wird einmal von Olivia Colman, dann wieder von Olivia Williams gespielt, Gleiches gilt für ihren konfrontativen Ehemann (Rufus Sewell / Mark Gatiss). Anthony Hopkins, der für seine Rolle den Oscar gewann, orientierte sich an dem letzten Lebensjahr seines eigenen Vaters, in dem dieser wütend gegen den fortschreitenden Verfall ankämpfte.

Aggressiver Kontrollverlust

Gleichzeitig ist Anthony in Zellers Skript ein hochmütiger Bürgerlicher, der, weil er sich einst etwas auf seinen Verstand einbildete, umso mehr an dessen Verschwinden leidet. Das Bild des alten, weißen, bürgerlichen Patriarchen, dessen Kon trollverlust in Aggression resultiert, ist eine Paraderolle für Hopkins und öffnet den Raum für Spekulationen über das Politische in Zellers Reflexion über den Verfall.

Für sein Debüt gelang es Zeller, die Crème de la Crème des britischen Kinos zu gewinnen. Doch ebendas mag auch der Grund sein, weshalb The Father am Ende etwas zu "sophisticated", zu ausgefeilt wirkt, sodass der Film eher aufgrund seiner formalen Perfektion als wegen seiner emotionalen Zugänglichkeit im Gedächtnis bleibt. (Valerie Dirk, 25.8.2021)