Alltag an der Wiener Einwanderungsbehörde MA 35: Nicht jeder Klient bekommt rechtzeitig eine Antwort.

Foto: Regine Hendrich

Der Unmut wächst rapide. 284 Beschwerden zählte die Volksanwaltschaft im Vorjahr, heuer waren es bis dato bereits 500. Sie alle richten sich gegen eine Behörde, weil diese Anträge nicht innerhalb der sechsmonatigen Maximalfrist erledigt habe: die Magistratsabteilung 35 in Wien.

Karin Knogl kommen die leidvollen Erfahrungsberichte, die nun Schlagzeilen machen, bekannt vor. Doch abgesehen von einzelnen positiven Beispielen sei der Umgang mit dem Einwanderungsamt seit Jahren äußerst schwierig, sagt die Leiterin der Rechtsberatung der Caritas Wien: "Auch wenn die Rechtslage kompliziert ist, sind die Verfahren extrem langwierig, die Kommunikation ist unprofessionell." Seit zwei Tagen versuche sie etwa, wegen der Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung – an sich ein Routineakt – eine Auskunft zu erhalten: "Doch ich komme nicht durch. Wenn mir das nicht gelingt, schaffen es die Klienten erst recht nicht."

Das zerrt nicht nur an den Nerven, sondern bringt manchen in existenzielle Nöte. Zwar gilt auch die Einreichbestätigung für einen Antrag auf Verlängerung als Nachweis für einen rechtmäßigen Aufenthalt. Doch Arbeitgeber und Wohnungsvermieter sind oftmals skeptisch und ziehen lieber Menschen mit abgeschlossenem Verfahren vor. Familienbeihilfe, Kinderbetreuungsgeld, Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe werden ausgesetzt, solange nicht alles unter Dach und Fach ist. Viele Zuwanderer hätten nicht die finanziellen Reserven zur Überbrückung, bis die Behörde nach Verfahrensabschluss nachzahlt, sagt Knogl.

Erst Problem kritisiert, dann geerbt

Wie es so weit kommen konnte? Der aktuell zuständige Stadtrat Christoph Wiederkehr ist nur bedingt der richtige Adressat. In der Opposition hat der Neos-Politiker die Zustände kritisiert, um sie mit dem Eintritt in die Stadtregierung im letzten Herbst zu erben. Wiederkehr leitete eine Personalaufstockung zur Entlastung ein, plant einen externen Telefonservice, will die Abläufe überprüfen, verkneift sich bisher aber Schuldzuweisungen an die davor jahrelang zuständigen Koalitionspartner von der SPÖ.

Niki Kunrath muss weniger Rücksicht nehmen. Er spreche Wiederkehrs Vorgängern Sandra Frauenberger und Jürgen Czernohorszky nicht ab, das Problem ernst genommen zu haben, sagt der grüne Gemeinderat, doch letztlich seien die Dimensionen verkannt worden. Eine Unkultur habe sich im Amt, wo 150.000 Anträge pro Jahr für Arbeitsdruck sorgen, breitgemacht: Wollte eine Abteilung Mitarbeiter loswerden, seien diese – mit allem Frust im Gepäck – in die MA 35 geschickt worden.

Und die Bürgermeisterpartei? Auch zu Zeiten der SPÖ-Verantwortlichkeit sei immer wieder Personal aufgestockt worden, heißt es aus Czernohorszkys Büro. Doch wachsender Andrang, die verworrene Rechtslage und die Beschränkung der persönlichen Kontakte in der Corona-Krise hätten die Lage verschärft.

Was das für den Einzelnen bedeutet, können Klientinnen und Klienten der MA 35 berichten. Der STANDARD hat mit einigen davon gesprochen.


Lucia G. "Die MA 35 ist wie in einem Kafka-Roman"

Es sei immer dieselbe Enttäuschung: der Blick ins leere Postfach. "Ich warte jeden Tag darauf, dass ein Brief ankommt oder sogar jemand an meiner Haustür läutet", erzählt die 36-jährige Lucía G. Vor drei Jahren kam sie über ein Sprachassistenzprogramm nach Wien und begann zeitgleich ein Studium an der Universität Wien. Ihre größte Sorge sei damals gewesen, dass sie – wie für das Studienvisum verlangt – genügend Prüfungspunkte im Jahr schaffe. Auch die finanziellen Voraussetzungen waren nicht leicht zu erfüllen: 12.000 Euro muss sie der Behörde als "Sicherheit" vorweisen. "Auf meinem Konto bunkere ich deswegen das ganze Geld, das ich von meinen Verwandten eingesammelt habe", sagt sie.

Im heurigen Mai reichte sie bei der MA 35 die Unterlagen für die Verlängerung des Studienvisums ein – sogar zwei Monate früher als nötig. Nun sollte sie eine andere, neue Facette jener Stadt kennenlernen, in die sie sich – wie sie sagt – so sehr verliebt habe.

Unbeantwortete Anrufe und E-Mails, nicht funktionierende Websites, auf die von Behördenseite ständig verwiesen wird – all das erinnert Lucía an die Schilderungen Franz Kafkas über die dunkle, geheimnisvolle k. u. k. Bürokratie: "Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich versucht habe anzurufen".

Im Juli ist ihr gültiger Aufenthaltstitel abgelaufen, die Übergangsfrist endet Anfang Oktober. Anstatt ihre Familie im Sommer zu besuchen oder einen Job anzutreten, sitzt sie seither in Wien fest. "Ich kann ja derzeit weder ein- noch ausreisen, geschweige denn arbeiten ohne gültigen Titel", sagt sie. "Und dann fehlt der MA 35 meistens ein Dokument, das nicht auftreibbar ist." Freunde hätten ganz ähnliche Erfahrungen gemacht.

Die lange Wartezeit nage an ihr, sagt Lucía: "Manchmal frage ich mich, ob es das alles wirklich wert ist."


Alex R.: "Es gibt nicht den Willen, etwas zu verbessern"

Bis vor kurzem haben Alex R. und seine Frau Sarah keine schlechten Erfahrungen mit österreichischen Ämtern gemacht. Als Studentin kam die Asiatin 2017 nach Kärnten. Beratend, serviceorientiert und unterstützend – so gab sich die Klagenfurter Einwanderungsbehörde gegenüber der 30-Jährigen. 2019 übersiedelte Sarah zu Alex nach Wien, sie heirateten. Damit änderte sich sowohl ihr Aufenthaltstitel als auch die zuständige Behörde: Nun war die Wiener MA 35 für sie zuständig. Heute sagt Alex: "Wir hätten nicht geglaubt, dass so etwas in Österreich möglich ist."

Das Prozedere sah fortan folgendermaßen aus: Nach zwei Jahren konnten die beiden erneut bei der Behörde ihren Aufenthaltstitel um drei Jahre verlängern. Im Mai 2021 war es so weit. "Wir haben den Antrag ganz einfach gestellt, ohne groß nachzudenken", sagt Alex. Im Juni kam die Rückmeldung, dass der Aufenthalt verlängert wurde – aber nur um ein Jahr. "Wir haben dutzende Male angerufen und Mails geschrieben", sagt Alex, immerhin würden Gebühren und unnötige Amtswege anfallen.

Eine Antwort kam nach sechs Wochen – und der Magistrat zeigte sich einsichtig: Ihnen sei ein Fehler unterlaufen, hielt der Sachverständige fest; eigentlich hätte der Aufenthalt auf drei Jahre verlängert gehört. Das Problem: Die Beschwerdefrist von vier Wochen sei mittlerweile überschritten. "Sie haben allen Ernstes gesagt, dass ihnen deswegen die Hände gebunden sind", sagt Alex. Zum Kopfschütteln sei das: "Wir haben am selben Tag noch eine E-Mail geschickt."

Seine Vermutung: Fälle würden so lange hinausgezögert, bis die Beschwerde nicht mehr gültig sei; auch Bekannte hätten von ähnlichen Problemen erzählt. "Es gibt einfach nicht den Willen, etwas zu verbessern, weil die Klienten zu wenig Lobby haben."


Anisley M. und Stephan O.: "Es ist wirklich ein Armutszeugnis."

Wäre nicht gerade Pandemie, würden die Kubanerin Anisley Montes und ihr Freund Stephan O’Farrill, ein deutscher Staatsbürger, ihre zehn Monate alte Tochter Andrea in Havanna, Kuba, aufwachsen sehen. Corona hat diesen Plänen, auch aufgrund der Gesundheitskrise auf der Insel, einen Strich durch die Rechnung gemacht. Im April 2021 kamen Anisley und die Tochter nach Wien, das seit 2008 die Wahlheimat ihres Freundes ist. "Ich habe sofort versucht, einen Termin bei der MA 35 zu bekommen", schildert der Vater. Sorgen machte er sich nicht, denn: "Uns hat ein Mitarbeiter versichert, dass sie aufgrund unserer Tochter, die deutsche Staatsbürgerin ist und den Wohnsitz in Wien hat, ein Recht hat, hier zu sein."

Was allerdings folgte, waren falsche Angaben zu behördlichen Zuständigkeiten und Aufenthaltstiteln. Denn das Referat 5.0, bei dem sie am 21. Juni erschienen, teilte ihnen mit, dass sie an dieser Adresse falsch seien – sie müssten zum Erstanmeldezentrum. "Wir kannten uns damals nicht aus. Jetzt wissen wir, dass sie eigentlich unseren Antrag hätten annehmen müssen", sagt Montes.

Weil die 90-Tages-Frist als Touristin zwei Tage später verstreichen würde, standen sie einen Tag später beim Erstanmeldezentrum. "Auch dort wurden uns wieder falsche Informationen gegeben", sagt Montes. Sie warfen einen wesentlich schwerer auszufüllenden Antrag ins Postfach – und mussten trotz Bitte um Verlängerung der Frist wegen der Pandemie Österreich verlassen, weil sie sonst eine Einreisesperre befürchteten. Wieder zurück in Wien, versuchen sie nun mit einem Anwalt, den Prozess abzuschließen. "Es ist wirklich ein Armutszeugnis", sagt O’Farrill, "dass das überhaupt notwendig ist."


Götz W.: "Man zeigt einem einfach die kalte Schulter"

Eigentlich wollte Götz Wagemann nur zwei Semester in Wien Archäologie studieren. "Ich hätte nie gedacht, dass ich so lange hierbleiben würde", sagt der 53-jährige Studienreiseleiter. Aus den zwei Semestern wurden 28 Jahre. Lange Zeit, so sagt Wagemann, hätte er geistig noch in Deutschland gelebt. "Nach so vielen Jahren ist die Stadt aber natürlich meine Heimat geworden: Hier hab ich studiert, geheiratet und ein Kind gekriegt", sagt der 53-Jährige. Weil ihm aber als Deutscher etwa das Wahlrecht in Österreich verwehrt blieb, wollte er vor ein paar Jahren auch auf dem Papier Wiener werden. Sein Sohn ist bereits österreichischer Staatsbürger und nebenbei Medaillengewinner bei den Staatsmeisterschaften im Rudern, "solche jungen und leistungsstarken Leute hat man natürlich gerne hier", scherzt Wagemann.

Seither kann Wagemann etliche Anekdoten über die Seele der Wiener Magistrate erzählen. Einmal wurde er aufgefordert, in einem menschenleeren Büro eine Nummer zu ziehen. Bei der MA 35 fragte der Beamte, ob er schon die Geschichtsprüfung absolviert habe. "Abgesehen von diesen originellen Fragen verlief zuerst alles prima", sagt der Historiker. Als er allerdings nachfragen wollte, wie es um seine Staatsbürgerschaft stehe, kam als Antwort: "Na ja, schlecht." Die Begründung: Da er als Reiseleiter – wenn auch berufsbedingt – hauptsächlich im Ausland arbeite, habe er nicht ausreichend Zeit in Österreich verbracht. "Es ist einfach nur absurd", sagt Wagemann, "soll ich etwa den Beruf wechseln, um Österreicher zu werden?" Über die großzügige Vergabe von Staatsbürgerschaften an Prominenz, wie etwa an Opernsängerin Anna Netrebko, zeigt er sich verärgert: "Der Mehrheit wird einfach die kalte Schulter gezeigt." (Gerald John, Elisa Tomaselli, 24.8.2021)