Bamako, Mali: Im Juni 2021 kündigte Frankreich den Abbau seiner Militärpräsenz in der Sahelzone an. Die Unsicherheit bleibt.

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Nigrer auf dem Weg nach Libyen, Agadez, Oktober 2019. Die Stadt war lange Zeit Transitort für Migrant:innen.

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Frauen beim Wasserholen in Kaya, Burkina Faso.

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In einem Hinterhof in Pazani, einem Viertel im Norden der Hauptstadt Burkina Fasos, Ouagadougou: Dutzende Kinder spielen hier, obwohl sie eigentlich in der Schule sein müssten. Vom Nachbargelände klingen Bubenstimmen herüber, die den Koran rezitieren. Lokale Koranschulen haben als einzige geöffnet, während die Türen von öffentlichen Schulen geschlossen sind. "Unterricht gibt es ansonsten nicht", sagt Fatimata Ourba. Sie ist im Mai 2019 mit ihrem Mann und vier Kindern aus der Kleinstadt Arbinda 250 Kilometer weiter nördlich nach Pazani geflüchtet.

Der Grund für die Schulschließung ist nicht die Covid-19-Krise. In den Ländern im Zentrum der Sahelzone stehen Schulen im Visier von Terroristen. Bewaffnete Banden brennen in Burkina Faso immer wieder auch Schulgebäude nieder und greifen Lehrer:innen und Schüler:innen an.

Nach Angaben des burkinischen Bildungsministeriums sind über 2.200 Schulen aufgrund der Unsicherheit geschlossen. Mehr als 300.000 Mädchen und Buben haben keinen Unterricht.

Eine sich ausweitende Krise

Die Sahelzone, die sich von Senegal und Mauretanien über Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad bis in den Sudan erstreckt, hat sich in den vergangenen zehn Jahren verändert wie kaum eine andere Region auf der Welt. Einst verschlafene Gegenden, die früher Individualreisende angezogen haben, sind Brennpunkte von Gewalt geworden. Besonders betroffen ist das Länderdreieck Mali, Burkina Faso und Niger. Der Alltag der Bevölkerung ist von Unsicherheit und Perspektivlosigkeit geprägt. Zunehmend zwingen Anschläge und bewaffnete Kriminalität die Menschen zur Flucht.

Nach Einschätzung des Norwegischen Flüchtlingsrats (NRC) ereignet sich in Burkina Faso die am schnellsten wachsende humanitäre Krise weltweit. Nach Informationen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen sind mehr als 1,2 Millionen Menschen im eigenen Land auf der Flucht. Die Binnenflüchtlinge sind auf private Spenden von Hilfsorganisationen, Kirchen, Moscheen sowie Angehörigen und Nachbar:innen angewiesen. Eigene Ersparnisse sind längst aufgebraucht.

Aus Angst vor Terrorangriffen ist auch Ourba in die Hauptstadt Ouagadougou geflohen. "Als die Terroristen kamen und das Morden begann, hat jeder geschaut, wie man fliehen kann", erzählt sie. Mal starben bei Angriffen rund 30, mal mehr als 60 Personen. Verhindern konnte die Armee das nicht. "Ob die Jihadisten aus Mali oder Burkina Faso kommen, wissen wir nicht. Es gelingt ihnen aber, plötzlich aufzutauchen und wieder zu fliehen."

Auch in Bamako, der Hauptstadt von Mali, wächst der Druck, jeden Tag genug zum Überleben zu finden. Eine Gruppe Buben zieht an einem Spätnachmittag durch das Viertel Badalabougou. Die Sonne steht tief. Die Straßen aus orangerotem Sand sind staubig. "Donne-moi de l'argent", gib mir Geld, sagt einer der Buben. Die Zahl derer, die um Geld bitten, nimmt zu. Häufig sind es Frauen, die mit Baby und Kindern an den Straßenkreuzungen stehen.

Die schwere wirtschaftliche Krise in der Region ist nicht zuletzt eine Folge des Terrorismus und der Konflikte.

Zusammenschluss von Söldnern

In den vergangenen zehn Jahren haben sich Bewegungen, die sowohl Al-Kaida als auch dem "Islamischen Staat" nahestehen, in der Region ausgebreitet. Als besonders einflussreich gilt Jama'at Nusrat al-Islam wa-l-Muslimin (Gruppe für die Unterstützung des Islam und der Muslime, JNIM), ein Zusammenschluss dreier malischer Terrormilizen, die auch im Nachbarland Burkina Faso Anschläge verüben. Und im Südosten des Niger ist seit Jahren die nigerianische Terrormiliz Boko Haram (übersetzt: Westliche Bildung ist Sünde) aktiv, die trotz vollmundiger Ankündigungen der nigerianischen Regierung bisher nicht wirksam bekämpft wurde.

Für Issoufou Yahaa, Professor an der Abdou-Moumouni-Universität in der nigrischen Hauptstadt Niamey, stand schon vor Jahren fest, dass die Anhänger der Gruppierungen mehr Söldner und weniger religiös motiviert sind. Je nach Situation schließen sie sich unterschiedlichen Bewegungen an.

Nach Einschätzung der Denkfabrik International Crisis Group (ICG) mit Sitz in Brüssel ist längst ein Korridor vom Tschadsee durch die Sahelzone bis in den Norden Malis entstanden, über den Söldner ausgetauscht sowie Waffen, Menschen und Drogen geschmuggelt werden.

Eine Entwicklung ist in der gesamten Region zu beobachten: Betroffen sind zuerst schlecht gesicherte Grenzregionen, die weit entfernt von den politischen und wirtschaftlichen Machtzentren liegen. Von den Rändern breitet sich die Gewalt ins Landesinnere aus. In der Hauptstadt von Burkina Faso schreibt der Schauspieler und Schriftsteller Mahamadou Tindano darüber: "Wir meinen mitunter, auf einer Insel zu leben, und die anhaltende Gewalt würde andere betreffen."

Verlust staatlicher Kontrolle

Dass sich Terrorbewegungen, lokale Banden und das organisierte Verbrechen – gerade für Überfälle sind längst nicht nur Extremisten verantwortlich – derart ausbreiten konnten, liegt vor allem am Staatsversagen. Ab Ende 2011 kämpften im Norden Malis Anhänger:innen der Nationalen Bewegung zur Befreiung des Azawad (MNLA) gegen die malische Armee und für einen eigenen Tuareg-Staat. Die Unzufriedenheit mit der Regierung von Bamako hatte sich erneut aufgestaut. Es handelte sich um die dritte Tuareg-Rebellion. Der erste Aufstand fand zwischen 1962 und 1964 und der zweite von 1990 bis 1995 statt. Der Verlust der staatlichen Kontrolle vor zehn Jahren öffnete wiederum Terrorgruppen die Tore.

Die Gewalt hat sich weiter ins Zentrum von Mali ausgebreitet. Dort kommt es seit Jahren zunehmend zu Ausschreitungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, den Dogon, die überwiegend Landwirtschaft betreiben, und den Peul, Mitgliedern einer ethnischen Gruppe, die in vielen anglophonen Ländern Westafrikas als Fulani bekannt ist. Sie halten Vieh, und viele leben bis heute als Halbnomaden. Dabei geht es auch um die Kontrolle von Weide- und Ackerland.

Die Folgen der Klimakrise und schwindende Ressourcen haben diese Konflikte weiter geschürt. Beide haben Milizen gegründet, die sich gegenseitig bekämpfen. Querverbindungen zu Terrorgruppen existieren.

Burkina Faso im Fokus

Wer in Ouagadougou fragt, ob Burkina Faso ein zweites Mali wird, erhält mitunter eine abfällige und ungläubige Handbewegung, verbunden mit der Erklärung, dass die Bedingungen völlig anders seien. Das Land habe nur gut ein Fünftel der Fläche von Mali, lasse sich besser sichern. Die Armee galt nie als so geschwächt wie die malischen Streitkräfte. Dabei gründeten ethnische Gruppen bereits ab 2014, vor dem Rücktritt von Langzeitherrscher Blaise Compaoré (Präsident von Burkina Faso von 1987 bis Oktober 2014) – es gilt als belegt, dass er mit Terrorgruppen sogenannte Nichtangriffspakte geschlossen hatte –, Selbstverteidigungsbündnisse: Gruppierungen wie die Koglweogo übernahmen Aufgaben der Polizei. Schon damals schützten Polizei und Gendarmerie nicht mehr gegen Delikte wie Viehdiebstahl. Ohne rechtliche Grundlage gehen die Mitglieder der Koglweogo bis heute brutal gegen mutmaßliche Diebe vor.

Eines macht in Burkina Faso jedoch besonders Sorge: Das Land galt jahrzehntelang als beispielhaft für das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher ethnischer Gruppen und Religionen. Man schützte sich gegenseitig.

Gezielte Angriffe, etwa auf Kirchen und ethnische Gruppen, schüren Misstrauen und sorgen dafür, dass Nachbar:innen, einstige Freund:innen und Familienmitglieder nicht mehr notwendigerweise aufeinander aufpassen. Das erleichtert Kriminellen wiederum das Handwerk.

Stille Reserven

Mangelnde Ausbildung, vor allem aber die damit einhergehende Perspektivlosigkeit gilt als Nährboden für Terrorgruppen und Banden. Laut Mamadou Fofana, der für das westafrikanische Netzwerk zur Sicherung und Erhaltung des Friedens (Wanep) arbeitet, schaffen diese es, sogenannte stille Reserven anzulegen. Populär ist das System im Niger: Dort würden Gruppierungen seit Jahren arbeitslose Jugendliche monatlich mit Geld unterstützen, das als Startkapital für eine Selbstständigkeit dient. Damit erkaufen sie sich Loyalität und können neue Mitglieder rekrutieren.

Staatliche Programme zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit und Zugang zu Krediten fehlen fast überall oder erreichen nur einen viel zu kleinen Personenkreis. Das System der stillen Reserven wird auch in anderen Regionen praktiziert, etwa am Tschadsee, aus denen sich der Staat längst zurückgezogen hat und wo ganze Dörfer, aber auch der Handel von Terrormilizen kontrolliert werden. So paradox es klingt: Ein solches System schafft eine Art Sicherheit gegenüber anderen, konkurrierenden Gruppierungen.

Internationale Friedensmissionen tun das indes nicht. Gerade in Mali gelten sie seit langem als gescheitert. Expert:innen vor Ort fordern deshalb, die Bevölkerung bei der Suche nach Lösungen endlich einzubeziehen. Als ebenso wichtig gilt allerdings ein funktionierender und verlässlicher Staat. Davon ist vielerorts jedoch kaum etwas zu spüren. (Katrin Gänsler aus Cotonou, Südwind-Magazin, Nr. 9–10, September/Oktober 2021)