Wenn eine Gemeinde für jedes Kind so viel ausgäbe wie für jeden Hobbyfußballer, wäre das Betreuungsproblem gelöst, meint Martha Schultz.

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Wien – Mehr als 70 Prozent der unter Dreijährigen werden in Österreich daheim betreut – mehrheitlich von ihren Müttern. Das ist im europäischen Vergleich der konservative Spitzenplatz. Sogar Deutschland ist, mit einer Heimbetreuungsquote von 69 Prozent, diesbezüglich fortschrittlicher. Ganz anders die Niederlande, Frankreich und Dänemark: Hier ist der Anteil der Klein- und Kleinstkinder, die außer Haus betreut werden, wesentlich höher. Das hat Auswirkungen: In Österreich ist, im Vergleich zu diesen Ländern, auch die Teilzeitquote am höchsten – und die frühkindliche Bildung beginnt später.

Dies ergibt eine aktuelle Untersuchung der Julius-Raab-Stiftung, gemeinsam mit dem Institut für Wirtschaftsforschung, Eco Austria. Für die Stiftungsvorsitzende Martha Schultz, die auch Vizepräsidentin der Wirtschaftskammer ist, ergeben sich daraus dringende Forderungen an die Politik.

STANDARD: Warum fehlen in Österreich so viele Kinderkrippen? Was hemmt den Ausbau?

Schultz: Vor allem die Lebenseinstellung. Bei uns herrscht ein verkrustetes Familienbild. In anderen Ländern ist das nicht so. In Österreich glaubt ein erschreckend hoher Anteil der Bevölkerung immer noch, dass ein Kind leidet, wenn die Mutter berufstätig ist. Das ist in den nordischen Ländern ganz anders, auch Deutschland ist hier fortschrittlicher. Und es ist spannend: Die Studie geht auch auf Untersuchungen ein, die zeigen, dass die Familienzeit dort intensiver genutzt wird, wo beide Elternteile berufstätig sind und externe Kinderbetreuung in Anspruch genommen wird.

"50 Millionen Euro mehr pro Jahr für die Zukunft unserer Kinder müssen schon drinnen sein." WKO-Vizepräsidentin Martha Schultz
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STANDARD: Welche Erkenntnisse ziehen Sie daraus?

Schultz: Das Wichtigste ist, dass Familien dann, wenn sie Betreuung brauchen, sie auch bekommen. Das funktioniert aber nur, wenn jedes Kind einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Geburtstag hat. Oft wird das falsch verstanden – als Zwang, dass jedes Kind fremd betreut werden muss. Darum geht’s nicht: Wenn man es braucht, soll man es haben – auf qualitativ hohem Niveau. Das muss nicht die Kinderkrippe sein, das können auch Tageseltern oder Betriebskindergärten sein. Ich habe da keine Präferenzen. Seit Jahren reden wir darüber, dass wir etwas ändern müssen – an der hohen Frauen-Teilzeitquote, am Gender-Pay-Gap, an der Altersarmut von Frauen. Um daran etwas zu ändern, brauchen wir mehr ganztägige, ganzjährige Kinderbetreuung.

STANDARD: Wo gibt es aus Ihrer Sicht die beste Kinderbetreuung?

Schultz: Für mich ist Dänemark Spitzenreiter. Hier sind die Rollenbilder am wenigsten verkrustet. Es ist selbstverständlich, dass Kinder schon früh institutionell betreut werden – wobei es Betreuung nicht ganz trifft. Es geht ja nicht nur darum, dass jemand schaut, dass den Kindern nichts passiert. Es geht auch um frühkindliche Bildung. Das ist eine Frage der Chancengerechtigkeit für jedes Kind. Um diese für alle zu erreichen, fordere ich: ganzjährig, ganztägig, flächendeckend – vom Neusiedler See bis zum Bodensee.

STANDARD: In Dänemark ist das Kinderbetreuungs- und Schulwesen zentral geregelt. In Österreich hat jedes Bundesland seine eigenen Regelungen. Ist das ein Teil des Problems?

Schultz: Ich habe nichts dagegen, dass die Länder das weiterhin regeln. Aber die grundsätzlichen Vorgaben müssen zentral geregelt werden – und wir müssen die Finanzierung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, die 15a-Verträge, neu denken. Ich fordere einen Zukunftsgipfel mit allen Beteiligten, wo das endlich besprochen und neu geregelt wird: Bund, Länder, Gemeinden, auch generationenübergreifend, sollen gemeinschaftlich eine Lösung finden. Die Sozialpartner sind sich hier übrigens schon einig.

STANDARD: Was muss sich ändern?

Schultz: Ich verstehe, dass eine kleine Gemeinde ein Problem damit hat, 75 Prozent der Kosten für den Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtung zu übernehmen. Wir müssen uns überlegen, wie wir diesen Verteilungsschlüssel grundlegend ändern.

STANDARD: Wie soll eine neue Finanzierung aussehen?

Schultz: In Deutschland hat Ursula von der Leyen als Familienministerin gegen große Widerstände den Rechtsanspruch auf Betreuung eingeführt. Dafür werden derzeit pro Jahr zusätzlich 500 Millionen Euro aufgewendet. Zumindest ein Zehntel, etwa 50 Millionen pro Jahr, sollte auch in Österreich zusätzlich in die Hand genommen werden. Nehmen Sie im Vergleich die Mehrausgaben durch die jährliche Pensionsanpassung, die etwa 270 Millionen Euro ausmachen. Im Sinne der Generationengerechtigkeit müssen da 50 Millionen für die Zukunft unserer Kinder schon drinnen sein.

STANDARD: Diese 50 Millionen sollten die Gemeinden bekommen?

Schultz: Das soll bei dem Zukunftsgipfel besprochen werden. Auch hier eine Bemerkung zur Verhältnismäßigkeit: Fast jede kleine Gemeinde pflegt einen Fußballplatz für den örtlichen Verein. Wenn für die Kinderbetreuung in jeder Gemeinde dasselbe Geld zur Verfügung gestellt wird wie für jeden Hobbyfußballer, ist das nicht zu viel verlangt.

STANDARD: Wie sollte eine künftige 15a-Vereinbarung aussehen?

Schultz: Ich könnte mir eine Subjektförderung vorstellen. Nicht der einzelne Kinderbetreuungsplatz wird finanziert, sondern jedes Kind trägt diesen Anspruch mit sich. Wir könnten uns Hamburg zum Vorbild nehmen, dort gibt es den Kinderscheck, den jedes Kind auf seinen Betreuungsplatz quasi mitnimmt. Das würde, nebenbei, auch für Wettbewerb sorgen und sich positiv auf die Qualität der Betreuung auswirken.

STANDARD: Ein Problem ist auch, dass Elementarpädagoginnen wenig verdienen – und unterschiedliche Dienstverträge haben. In Wien gibt es etwa ganzjährige Verträge, in anderen Ländern neun Wochen Urlaub.

Schultz: Für künftige Dienstverträge sollte es einen bundesweiten Rahmen geben, und die Gehälter der Pädagoginnen müssen denen der Lehrerinnen angeglichen werden. Nochmals: Wir sprechen von elementaren Bildungseinrichtungen.

STANDARD: Was muss sich bei Betriebskindergärten ändern?

Schultz: Wir müssen hier steuerlich etwas tun. Derzeit ist es so, dass eine Firma, die einen Betriebskindergarten hat, diesen nur sehr schwer mit anderen Firmen teilen oder für die Kinder von Beschäftigten anderer Unternehmen öffnen kann. Das muss aber das Ziel sein. Denn ein kleines Elektrikerunternehmen etwa kann sich kaum einen Betriebskindergarten leisten.

STANDARD: Wie stehen Sie zum verpflichtenden Kindergartenjahr?

Schultz: Ich bin total dafür und würde es sogar auf zwei Jahre ausweiten.

STANDARD: Apropos verkrustetes Familienbild: Wer unterstützt Ihr Anliegen in der ÖVP?

Schultz: Gerade in den letzten Wochen habe ich im Bezug auf unsere Studie und die damit verbundenen Forderungen viel Zuspruch erhalten, auch von Funktionärinnen und Funktionären in der Volkspartei. Wichtig ist die Wahlfreiheit. Eltern sollen wählen können, welche Art von qualitativer Betreuung sie für ihre Kinder wollen. Wir müssen das jetzt angehen. (Petra Stuiber, 26.8.2021)