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Der Angriff auf ein Gefängnis in Jalalabad im August 2020: die Fahne des "Islamischen Staats".

Foto: AP Photo/Rahmat Gul

"Todernst" nehmen westliche Geheimdienste die Gefahr von Anschlägen auf den Flughafen Kabul: Terroristische Gruppierungen könnten das Chaos ausnützen, nicht nur gegen afghanische Zivilisten vorzugehen, sondern auch gegen die abziehenden Ausländer. Konkret wurde am Wochenende der "Islamische Staat" (IS) genannt; einer der Gründe für die USA, alternative Routen zum Hamid Karzai International Airport zu suchen.

In Afghanistan sind mehrere von den USA als FTO – Foreign Terrorist Fighters – gelistete Gruppen am Werk: Die Taliban, mit denen die USA ja seit 2018 verhandelt haben, gehören nicht dazu. Diese haben aber nicht nur während ihrer ersten Herrschaft 1996 bis 2001 mit Al-Kaida kooperiert und laut Terrorismusexperten mit ihr nie völlig gebrochen. Eine als FTO gelistete Gruppe, das Haqqani-Netzwerk, ist sogar Teil der Taliban-Bewegung: Dessen Führer Sirajuddin Haqqani ist einer der Stellvertreter von Taliban-Chef Akhundzada. Und Sirajuddins Onkel Khalil Haqqani – auf den die USA ein Kopfgeld von fünf Millionen Dollar ausgesetzt haben – ist der neue Sicherheitschef von Kabul.

Mit dem IS in Afghanistan – er nennt sich hier "Islamischer Staat / Khorasan Provinz" (ISKP) – haben die Taliban in der Vergangenheit punktuell zusammengearbeitet, aber auch gegen ihn gekämpft. Laut eigener Aussage haben sie vor wenigen Tagen nach der Einnahme von Kabul den früheren ISKP-Chef Abu Omar al-Khorasani, den sie 2020 festgenommen hatten, exekutiert.

Abkommen von Doha

Damit will die Taliban-Führung wohl demonstrieren, dass sie ihre Zusage an die USA hält, nicht mit Terrorgruppen zusammenzuarbeiten. Dass die Taliban den IS, aber auch Al-Kaida, aus Afghanistan draußen halten, war einer der Bausteine des Abkommens, das die Taliban mit den USA unter Donald Trump im Februar 2020 in Doha abgeschlossen haben. Dafür sagten die USA ihren Abzug zu.

Der "Islamische Staat" ist in Afghanistan nicht so stark, wie er schon einmal war. Aber er war bis zuletzt mit verheerenden Anschlägen gegen Zivilisten, besonders gegen die schiitischen Hazara, aktiv. Im Mai wurden in einer schiitischen Mädchenschule in Kabul mehr als hundert Menschen, die meisten davon Kinder, getötet. Im Juni ermordete der ISKP eine Gruppe von Männern in der Provinz Baghlan, die für eine Entminungs-NGO arbeiteten. Besonders spektakulär war ein mehr als zwanzig Stunden dauernder Angriff auf ein Gefängnis in Jalalabad im August 2020.

Angst vor Zulauf

Der ISKP wurde offiziell 2015 gegründet und war vor allem in Ostafghanistan, an der Grenze zu Pakistan, aktiv. Personell speiste er sich anfangs vorwiegend aus der Gruppe TTP (Tehrik-e Taliban Pakistan), den "Pakistanischen Taliban" (im Gegensatz zu den afghanischen, wobei beide immer wieder zusammenarbeiten). Die meisten der ISKP-Führer – von denen in den vergangenen Jahren einige getötet oder gefangen genommen wurden – waren Pakistanis. Der aktuelle, Shabab al-Muhajir, soll jedoch ein Araber sein.

Terrorexperten sehen die Gefahr, dass Taliban, die den – zumindest nach außen gezeigten – neuen internationalen Pragmatismus ihrer Führung ablehnen, sich dem "Islamischen Staat" zuwenden könnten. Der ISKP bietet auch die aus dem salafistischen Gedankengut stammende Attraktion der Idee eines globalen Kalifats – was über das lokale "Emirat" weit hinausgeht, das der Staat der Taliban sein soll.

Der ISKP war in Afghanistan 2019 nach Offensiven der USA und der afghanischen Armee ab 2018 schon beinahe am Ende. 2016 wurde seine Stärke noch auf bis zu 8500 Kämpfer geschätzt, heute sollen es etwa 2000 sein. Von 2019 auf 2020 ging auch die Zahl der Angriffe, von 343 auf elf, und damit der zivilen Opfer, stark zurück. Aber der IS zeigt auch in anderen Regionen immer wieder seine starke Regenerationsfähigkeit.

Wer steckt dahinter?

Zuletzt hatten Taliban und die afghanische Regierung unter Ashraf Ghani einander wiederholt beschuldigt, selbst hinter dem ISKP zu stecken: Wenn sich die Taliban von Angriffen auf Zivilisten distanzierten und sich der "Islamische Staat" dazu bekannte, behauptete die Regierung, es handle sich in Wahrheit um Taliban-Attacken und Versuche, Afghanistan zu destabilisieren. Die Taliban hingegen beschuldigten die Regierung, die Taliban zu diffamieren und ihren "Friedensprozess" mit den USA zerstören zu wollen.

Es ist schwierig, die Gruppen und deren Beziehungen zu den Taliban sauber zu definieren, es gibt Fluktuation und Überschneidungen. Auch wenn sich der ISKP aus der TTP (Pakistanische Taliban) speiste, so ist andererseits die TTP der Sphäre von Al-Kaida zuzuschreiben – die ja mit dem IS in einem globalen jihadistischen Wettbewerb steht.

Al-Kaida hat zusätzlich noch einen separaten Ableger in der Region: AQIS (Al-Qaeda in the Indian Subcontinent). Es gibt noch zwei weitere von den USA als FTO gelistete Gruppen in Afghanistan: das Islamic Movement of Uzbekistan (IMO), das mit den Taliban zusammenarbeitet, und das Eastern Turkistan Islamic Movement (ETIM). Letzteres ist auf die chinesischen Uiguren fokussiert, war aber auch in Syrien präsent. Wenn die Taliban gute Beziehungen zu Peking wollen, werden sie ETIM in Schach halten. (Gudrun Harrer, 26.8.2021)