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Wegen des Austritts aus dem EU-Binnenmarkt gibt es nur eingeschränkte Vielfalt – seit Wochen spüren die Briten vielerorts Engpässe.

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Der Sainsbury’s-Supermarkt im Nordlondoner Stadtbezirk Harringay an einem ganz normalen Werktag zur Mittagszeit: In den Regalen klaffen Lücken allerorten. Egal ob frische Milch, gekühlte Fertiggerichte oder monatelang haltbare Nudeln – überall ist die bunte Vielfalt der Konsumenten stark eingeschränkt.

Die Momentaufnahme vom Mittwoch dieser Woche wiederholt sich seit Wochen allerorten auf der Insel. Tankstellen bleiben geschlossen, in Supermarktregalen herrscht gähnende Leere. Die Fastfoodkette Nando’s sah sich zur zeitweiligen Schließung von 45 Filialen gezwungen, weil das Hauptnahrungsmittel Hähnchenflügel nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung steht. Diese Woche machte McDonald’s Schlagzeilen: Wegen "vorübergehender Lieferprobleme" muss die durstige Kundschaft bis auf weiteres auf ihre angestammten Milkshakes verzichten.

Wegen der andauernden Versorgungsschwierigkeiten schlagen jetzt Firmen und Lobbyverbände wie der Industrieverband CBI Alarm: Der Lagerbestand im Einzelhandel befindet sich auf dem niedrigsten Niveau seit fast vier Jahrzehnten. Sogar EU-feindliche Medien müssen einräumen: Der Brexit gehört zu den wichtigsten Gründen für die mittlerweile dramatischen Engpässe. "Das lässt sich nicht mehr als kurzzeitiges Problem abtun", warnt Andrew Sentance von der Beratungsfirma Cambridge Econometrics. "Diese Situation könnte länger andauern, als die Leute meinen."

Nicht genug Truthähne

Aber wie lange? Auf weiße Weihnachten verzichten die Briten schon seit Jahr und Tag. Diesmal könnte es zusätzlich zur Schlacht um die wichtigste Zutat zum traditionellen englischen Festessen kommen: Wenn die Branche weiterhin so eklatanten Personalmangel erleide, könnte bis Dezember ein Fünftel der jährlich verzehrten Truthähne fehlen, warnt der Geflügelzüchterverband BPC in einem Brandbrief an Innenministerin Priti Patel. Das für Einwanderung zuständige Ministerium hat nämlich gering Qualifizierte zu unerwünschten Personen erklärt. Gerade diese aber seien "für die Aufrechterhaltung der Ernährung im Land ungemein wichtig", erläutern die Züchter.

Verbrauchermärkte, die Bauindustrie, Obst- und Gemüsebauern, die Gastronomie – allerorten fehlen seit Jahresbeginn günstige Arbeitskräfte. Die Brexit-Regierung unter Premier Boris Johnson hat nach Kräften versucht, das Problem kleinzureden oder der Pandemie in die Schuhe zu schieben. Immer klarer aber kristallisiert sich als Hauptgrund der EU-Austritt heraus: Mit dem endgültigen Verlassen von Binnenmarkt und Zollunion haben EU-Bürger seit 1. Jänner die Freizügigkeit auf der Insel verloren.

Nun fehlen der polnische Klempner und die rumänische Altenpflegerin, die spanische Kellnerin und der belgische Putzmann. Über die vergangenen Jahrzehnte haben Millionen vor allem junger Kontinentaleuropäer auf der Insel die schlecht bezahlten Jobs gemacht, zu denen die einheimische Bevölkerung nicht zu überreden ist.

Wenig Zuzug

Das neue, flugs nach dem Brexit verabschiedete Einwanderungssystem der Regierung setzt dem Zuzug billiger Arbeitskräfte enge Grenzen. Von einzelnen Kontingenten für Branchen wie die Landwirtschaft abgesehen müssen Antragsteller bestehende Arbeitsangebote mit Mindesteinkommen vorweisen.

Hingegen hoffen die Gewerkschaften auf höhere Einkommen für einheimische Arbeitskräfte. Tatsächlich bezahlen Supermarktketten und Warenhäuser vielerorts schon Begrüßungsgelder für neue Arbeitskräfte. Der US-Gigant Amazon begnügt sich für Paketpacker mit Prämien von bis zu 1000 Pfund (1168 Euro), ausgebildete Techniker beim Energiekonzern British Gas erhalten das Dreifache.

Üppige Einstandszahlungen

Erfahrenen Lastwagenfahrern bieten Supermarktketten ebenfalls vierstellige Einstellungszahlungen. Denn bei den Brummis macht sich der Mangel am eklatantesten bemerkbar. Seit sich das Großbritannien-Geschäft für viele qualifizierte EU-Kraftfahrer nicht mehr lohnt, fehlt ein Sechstel der rund 600.000 Menschen, die laut Branchenverband RHA für den Warentransport notwendig sind. Sars-CoV-2 schuf zudem ein Nachwuchsproblem: Wegen der Pandemie fielen monatelang die Prüfungen für Lastwagenführerscheine aus. Eine begrenzte Rückkehr zur bisherigen Arbeitnehmerfreizügigkeit, wie sie Spediteure gefordert haben, wurde von der konservativen Regierung abgelehnt.

Sollte der Momenteindruck vom Nordlondoner Sainsbury’s übertragbar sein, müssen sich die Briten wenigstens um bestimmte Konsumgutartikel keine Sorge machen: In den Alkoholregalen gibt es Bier, Wein und Schnaps in solch Hülle und Fülle, dass sich der Kummer über Versorgungsengpässe dauerhaft – womöglich sogar bis Weihnachten – ertränken lässt. (Sebastian Borger aus London, 26.8.2021)