Beim Einmarsch in Afghanistan im Herbst 2001 waren die USA noch zuversichtlich.
Foto: Imago

Als das US-Militär im Herbst 2001 nach dem Terroranschlag vom 11. September in Afghanistan einmarschierte und innerhalb weniger Wochen die Taliban vertrieb, die Osama bin Laden Unterschlupf gewährt hatten und seine Auslieferung verweigerten, rechnete niemand damit, dass dieser Krieg fast 20 Jahre andauern und mit einem Triumph der radikalen Islamisten über die Supermacht USA und ihre Nato-Verbündeten enden würde. Wie konnte das geschehen? So wie viele andere geschichtliche Ereignisse hat das Afghanistan-Debakel eine Vielzahl von Ursachen, ist – wie Historiker sagen – überdeterminiert. Die wichtigsten Faktoren sind hier kurz angerissen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Pakistans Militärgeheimdienst ISI war ein wichtiger Unterstützer der Taliban.
Foto: AP / Anjum Naveed

Pakistans destruktive Rolle

Auf dem Papier ist Pakistan seit jeher ein Verbündeter der USA und Empfänger von Milliarden an Wirtschafts- und Militärhilfe, aber im Afghanistan-Konflikt war Islamabad eher Feind als Freund. Die Taliban konnten sich nach ihrem Sturz in Afghanistan 2001 nach Pakistan, wo sie einst gegründet worden waren, zurückziehen und von dort ihren Kampf fortsetzen.

Die Regierungen in Islamabad waren vor allem besorgt, dass der Erzfeind Indien Einfluss in Afghanistan gewinnen könnte, und behinderten afghanische Regierungen auf Schritt und Tritt. Vor allem der pakistanische Militärgeheimdienst ISI spielte stets eine zwielichtige Rolle und stand auch dem radikalen Islamismus der Taliban nahe – selbst als deren pakistanischen Ableger blutige Terroranschläge in Pakistan verübten. Ohne diese Rückendeckung des wichtigsten Nachbarstaates hätten die Taliban die Macht nicht so leicht zurückerobern können. Die USA übten auf Pakistan nicht genug Druck aus, auch aus Sorge, interne Konflikte auszulösen, die die Atommacht destabilisieren könnten.

Bild nicht mehr verfügbar.

Der Irakkrieg gab den Taliban die erste Chance, wieder an Kraft zuzulegen.
Foto: AP / ALAN D MONYELLE

Ablenkung durch Irakkrieg

Am 1. Mai 2003 verkündete US-Präsident George W. Bush das Ende des Kriegs im Irak, in den die US-Truppen im März einmarschiert waren. Anders als in Afghanistan hatte dieser Krieg unter den westlichen Alliierten der USA nicht nur Unterstützer, sondern auch Gegner: Die Kriegsgründe wirkten – und waren – konstruiert, ein Mandat des Uno-Sicherheitsrats war für Bush nicht zu bekommen. Wie die USA im Irak agierten, wurde deshalb international, aber auch in den USA selbst, besonders kritisch verfolgt.

Ab Sommer 2003 wurde die Sicherheitslage im Irak schlechter, Al-Kaida – die zuvor im Irak nicht präsent gewesen war – verübte Anschläge vor allem auf Schiiten, um einen Bürgerkrieg auszulösen. Auch die Angriffe auf US-Truppen nahmen zu, die USA begannen, Territorium an Aufständische zu verlieren. Im November 2004 waren US-Präsidentenwahlen: Deshalb wurde die Lage im Irak beschönigt und Truppen abgezogen – die nach den Wahlen wieder zurückgeschickt und weiter aufgestockt werden mussten. Ressourcen wurden in den Irak verschoben. Auch in Afghanistan gaben die Taliban wieder erste Lebenszeichen von sich. Aber da im Irak die Illusion, dass alles nach Wunsch läuft, am Zusammenbrechen war, musste sie in Afghanistan aufrechterhalten werden, umso mehr als 2006 in den USA Midterm-Elections anstanden.

Bild nicht mehr verfügbar.

Vor allem Präsident Hamid Karzai bestand auf einer starken Zentralregierung.
Foto: AP / Ramat Gul

Ungeeignete Verfassung

Afghanistan ist ein ethnisch diverses Land, dessen Geografie und Demografie lokale politische Strukturen als logisch erscheinen lassen würden. Keine der ethnischen Gruppen – Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken etc. – hat landesweit eine Mehrheit. Aber sie stellen Mehrheiten in ihren angestammten Gebieten. Die Verfassung von 2004 ist höchst zentralisiert, Kabul regierte bis in die kleinsten Verwaltungseinheiten in entfernten Winkel hinein, es gab keinerlei Form von beschränkten lokalen Autonomien. Der Präsident Afghanistans wurde gewählt – aber nicht so die Gouverneure der 34 Provinzen, sie wurden in Kabul bestimmt. Hinter der Verhinderung jeglichen Föderalismus steckte die Vorstellung vor allem von Präsident Hamid Karzai, einem Paschtunen, dass nur eine starke Zentralregierung die Desintegration des Staates verhindern und die lokalen Führer, die früheren Warlords, einhegen könne.

Eine Folge dieser Verfassung war jedoch ein ständiger Antagonismus zwischen der Regierung, die ihre Wünsche entweder mit Gewalt durchsetzte – oder scheiterte –, und der Provinz. Auch innerhalb der Exekutive war der Zentralismus, der dem Präsidenten nach einem noch so schmalen Wahlsieg die ganze Macht gab, ein Problem: Angesichts ständiger Streitereien nach – stets von Fälschungsvorwürfen überschatteten – Wahlen wurden letztlich in der Verfassung nicht vorgesehene Posten geschaffen, wie der eines "Chief Executive Officers", eines Premiers durch die Hintertür, dessen Kompetenzen aber nie klar formuliert wurden. Das präsidentielle System förderte auch nicht den Parlamentarismus. Am Ende war der zerstrittene, gelähmte Staat schwach, nicht stark.

Bild nicht mehr verfügbar.

Die afghanischen Minister galten wie die ganze Elite zumeist als höchst korrupt.
Foto: AP / Denis Balibouse

Korruption

Natürlich haben die USA und ihre Partner nicht die Korruption nach Afghanistan gebracht. Aber es flossen, wie auch im Irak nach 2003, riesige Summen internationaler Gelder ins Land, an denen sich viele Politiker zu bedienen begannen. Es waren aber auch nicht nur Afghanen, die sich bereicherten – auch für einige dort tätige ausländische Unternehmen, Berater etc. wurde das Land zur Goldgrube.

Korrupt waren auch nicht nur die afghanischen Eliten, korrumpiert wurde auch die Gesellschaft. Ausländische NGOs schufen Parallelsysteme zur traditionellen Gesellschaft, boten Arbeitsplätze, aber auch Leistungen, deren Annahme sie manchmal "bezahlten", etwa wenn der Schulbesuch von Mädchen gefördert wurde, indem man der Familie Geld gab. Die Taliban hingegen und ihr früherer Staat galten als sauber, ergo auch als die mit dem wahren Islam. Denn auch korrupte afghanische Politiker pflegten nach 2001 einen islamischen Diskurs, um ihre Zugehörigkeit zu afghanischen religiösen Traditionen zu unterstreichen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Die Wahlsiege des letzten afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani waren von Fälschungsvorwürfen überschattet.
Foto: AP / Rahmat Gul

Ungeeignete Politiker

Hamid Karzai, der erste Präsident Afghanistans nach dem Sturz der Taliban, wurde bei der Bonner Konferenz im Dezember 2001 zwar von prominenten afghanischen Repräsentanten zur Führung einer ersten Übergangsverwaltung bestimmt, aber in Afghanistan selbst galt er stets als US-Marionette. Schon bei seiner ersten Wahl 2004 – er gewann in 21 von 34 Provinzen, also nicht überragend – gab es Gerüchte über Fälschungen, 2009 waren sie nicht mehr zu überhören, dennoch blieb er bis 2014 im Amt. Bei seinem Nachfolger Ashraf Ghani war es nicht anders.

Die Wahlen von 2019, bei denen sich auch sein Herausforderer Abdullah Abdullah zum Wahlsieger erklärte, führten zu einer Staatskrise, die mit faulen Kompromissen beigelegt wurde. Beiden Präsidenten gelang es nicht, landesweite Legitimität zu erringen.

Verfehlte Wirtschaftshilfe

Nur ein Bruchteil der rund 2,3 Billionen Dollar (2,0 Billionen Euro), die von den USA in 20 Jahren in Afghanistan ausgegeben wurden, floss in zivile Projekte wie Infrastruktur, Bildung, Verwaltung oder wirtschaftliche Entwicklung. John Sopko, US-Sonderprüfer für diese Programme, spricht von 86 Milliarden Dollar– wohl zu wenig für ein rückständiges Land, wo es an allem fehlt. Und auch dieses Geld wurde zu einem guten Teil gestohlen oder vergeudet, weil US-Behörden und internationale Spender die Mittel oft an lokale Einrichtungen weitergaben und ihre Verwendung nicht kontrollierten.

Auch US-Projekte waren oft verfehlt. Viel Geld floss in Antidrogenprogramme, die den Opiumanbau eindämmen sollten – vergeblich. Mit Millionen wurde der Sojaanbau in Nordafghanistan gefördert, obwohl Boden und Klima ungeeignet sind. Als "Fass ohne Boden" beschrieb der Journalist Joel Brinkley bereits 2011 die US-Hilfsprogramme. Und viel von dem, was tatsächlich errichtet worden war, wurde im Krieg wieder zerstört.

Falsche Militärstrategien

Die USA wussten 2001 nur zu gut, wie schwer sich konventionelle Streitkräfte gegen eine Guerillaarmee tun. Aber dennoch wurden die Lehren aus Vietnam und anderswo erneut vergessen. Die schweren Waffen und Hochtechnologie erwiesen sich im Kampf gegen die Taliban oft als unwirksam. Nach der Tötung von Osama bin Laden 2011 schränkte die US-Armee eigene Militäreinsätze immer mehr ein und verlegte sich ab 2015 auf Ausbildung und Ausrüstung der afghanischen Armee. Diese konnte mit den komplizierten US-Waffen noch weniger anfangen.

Der US-Kampf wurde nun vornehmlich aus der Luft geführt. Doch durch die vielen Drohnenangriffe gegen Taliban-Ziele in abgelegenen Regionen kamen immer öfter Zivilisten ums Leben. Das brachte den USA und ihren Verbündeten wachsenden Zorn und den Taliban Sympathien ein.

Bild nicht mehr verfügbar.

Bei den Verhandlungen mit den USA in Doha stiegen die Taliban als Sieger aus.
Foto: AP / Hussein Sayed

Trumps Debakel in Doha

US-Präsident Donald Trump stockte ab 2017 die Truppen zwar ebenfalls leicht auf, machte aber kein Hehl daraus, dass er das US-Engagement in Afghanistan beenden wollte. Er holte Zalmay Khalilzad, Botschafter in Kabul unter US-Präsident George W. Bush, als Sonderbeauftragten zurück: Der gebürtige Afghane sollte mit den Taliban ein Arrangement aushandeln, mit dem genau das verhindert werden sollte, was jetzt geschehen ist: dass die Taliban nach dem US-Abzug unkontrolliert wieder die Macht übernehmen. Trump stützte seine Abzugspläne auf die – auch von seinem Nachfolger Joe Biden geteilte – Meinung, dass mit dem Sieg über Al-Kaida die US-Aufgabe in Afghanistan erfüllt sei.

Im Oktober 2018 nahm Khalilzad in der katarischen Hauptstadt Doha Vorverhandlungen mit den Taliban auf; die regulären Verhandlungen begannen im Jänner 2019 und endeten im Februar 2020. Die afghanische Regierung wurde von den USA vorerst nicht mit einbezogen. Der Sukkus des Abkommens war, dass die USA abziehen und dass die Taliban alle Terrororganisationen aus Afghanistan draußenhalten und mit Kabul eine gemeinsame Regierung aushandeln würden.

Biden setzte das Trump-Abkommen um. In der Zeit, in der die Taliban mit den USA verhandelten, waren sie großteils durch eine Waffenruhe geschützt und konnten ihre militärische Stärke und territoriale Kontrolle in Afghanistan weiter ausbauen. Ihr Gewinn an Ansehen durch Verhandlungen mit den USA auf Augenhöhe war enorm – der Verlust an Ansehen für die Regierung Ghani ebenso.

Was in Herat und anderen Provinzstädten geschah, blieb der US-Armee oft verborgen.
Foto: AFP / Hamed Sarfarazi

Irrtümer der Geheimdienste

Das Ende des US-Einsatzes in Afghanistan ist vor allem ein Debakel der Geheimdienste, die die Wehrkraft der afghanischen Armee maßlos überschätzt und die Stärke der Taliban ebenso unterschätzt haben. Zwar warnten die Dienste schon seit Monaten, dass die Taliban früher oder später die Macht übernehmen würden, aber das Tempo des Kollapses der Regierung Ghani sagte niemand voraus.

Was den Geheimdiensten vollkommen entging, war die Art, wie sich die Taliban in den Provinzen mit lokalen Behörden und Truppen auf eine kampflose Übergabe einigten. Die USA und die Nato verließen sich zu sehr auf Einschätzungen aus Kabul; ihre Leute waren nicht dort, wo der Krieg entschieden wurde, und es fehlten gute Informanten. Pessimistischere Berichte blieben oft in der Bürokratie stecken oder wurden aus Rücksicht auf die afghanische Regierung abgemildert. Zwar waren selbst die Taliban von der Geschwindigkeit ihres Sieges überrascht. Aber dass Biden noch im Juli selbstsicher erklärte, ein Kollaps der afghanischen Regierung sei höchst unwahrscheinlich, hätte nicht passieren dürfen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Auf das Chaos am Kabuler Flughafen hatten sich die USA nicht vorbereitet.
Foto: Reuters

Abzug ohne Plan

Aufgrund falscher Prognosen rechnete das Weiße Haus damit, es könne den Abzug plangemäß durchführen. Die Hauptsorge der Armee war, dass ein schrittweiser Rückzug die übrigen US-Truppen verwundbar machen würde. Deshalb wurde etwa der so wichtige Luftwaffenstützpunkt Bagram schlagartig im Juli geschlossen. Die Vergabe von Visa an Ortskräfte wurde aus Rücksicht auf die Regierung Ghani verzögert, die fürchtete, dass ein Exodus ihrer besten Leute den Kollaps beschleunigen würde.

Notfallpläne für den schlimmsten Fall, den Sieg der Taliban noch vor dem Abzugstermin am 31. August, wurden nicht erstellt. Als Folge verlassen die USA das Land mit Bildern, die an den Fall von Saigon 1975 erinnern, und auf eine Weise, die zehntausende treue Unterstützer in Lebensgefahr zurücklässt. (Gudrun Harrer, Eric Frey, 27.8.2021)