Die meisten Mitarbeiter der MA 35 leisten ihr Bestes, sagt Wiederkehr – die bekannt gewordenen Fälle hätte aber auch er sich nicht erwartet.

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Wien – Täglich dringen neue Schreckensmeldungen über die abstrusen Zustände in der Wiener Einwanderungsbehörde MA 35 an die Öffentlichkeit. Schikanen, überquellende Postfächer, unbeantwortete Anrufe, Verfahren, die sich über Monate, manchmal auch Jahre strecken – neu ist die Misere bei der Behörde nicht. Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr (Neos) hat sie nun von seinen roten Vorgängern übernommen. Im Gespräch mit dem STANDARD stellt er baldige Besserungen bei der Problembehörde in Aussicht. Zudem erklärt er, wieso er nicht alle Zahlen zur neuen Lehrerverteilung veröffentlichen will.

STANDARD: Wien als weltoffene Stadt solle sich für die Zustände bei der MA 35 schämen, haben Sie 2020 als Oppositionspolitiker gesagt. Schämen Sie sich immer noch?

Wiederkehr: Ich sehe Verbesserungspotenzial, und es gibt Probleme. Die habe ich in der Opposition angesprochen. Mit dem Regierungsantritt wollte ich daher Verantwortung übernehmen, obwohl mir viele geraten haben: Mach das lieber nicht, das wird schwierig.

STANDARD: Was macht es mit Menschen, die den Schikanen gewisser MA-35-Mitarbeiter ausgesetzt sind – wie wirkt sich das auf ihr Verhältnis zu Österreich, zu Wien aus?

Wiederkehr: Ich habe volles Verständnis für jene, die sich schlecht behandelt fühlen. Bei 150.000 Verfahren im Jahr gibt es auch einige Beschwerden. Heuer sind es 500, was viel zu viele sind. Wir gehen den Fällen, die nicht gut behandelt wurden, nach. Wir wollen, dass sich die Menschen, die zu uns kommen, willkommen fühlen. Integration soll ab Tag eins losgehen – und dafür braucht es eine gut funktionierende und serviceorientierte MA 35.

STANDARD: In anderen Berufen würde diese Arbeitsmoral und Tonalität nicht durchgehen. Warum hat hier die Kontrolle versagt?

Wiederkehr: Die allermeisten Mitarbeiter leisten wirklich ihr Bestes unter schwierigsten Bedingungen. Aber es gibt natürlich Fälle, die hätte auch ich mir nicht erwartet. Wenn es Mitarbeiter gibt, die bewusst das Telefon nicht abheben, ist es eine dienstrechtliche Verfehlung, für die ich kein Verständnis hätte. Das müssen wir jetzt untersuchen. Es ist ein Unterschied, ob ein Mitarbeiter überlastet ist oder bewusst nicht abhebt. Darum haben wir eine interne Revision beauftragt, das zu überprüfen. Von dieser Revision werde ich dann Konsequenzen ableiten.

Die MA 35 sei nur eine Seite der abgenutzten Medaille, auch die Bundesgesetze seien bewusst schikanös gestaltet worden, sagt Wiederkehr.
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STANDARD: Wenn jemand aufgrund Schludrigkeit der MA 35 keine Chance hatte, einen Job anzunehmen und daher weniger verdient hat: Wie helfen Sie diesen Betroffenen?

Wiederkehr: Die Verfahren müssen so schnell sein, dass es gar nicht so weit kommt. In den meisten Fällen geht es um eine Verlängerung ihres Aufenthalts. Auch wenn das zu lange dauert, erlischt ihr Aufenthaltstitel nicht. Die meisten Menschen haben trotzdem Anspruch – etwa auf Kindergeld oder andere Sozialleistungen. Diese Personen können natürlich nichts dafür, dass die Behörde nicht schnell genug arbeitet. Wenn es andere Fälle gibt, dann braucht es dafür natürlich eine Lösung, weil es um vieles geht. Allerdings können wir für die meisten Beschwerden, die entstehen, nichts dafür – weil wir letztlich Bundesgesetze exekutieren müssen, die oft absurd sind. Bei EWR-Bürgern müssen wir etwa Einkommensnachweise kontrollieren. Das ist reine Schikane. Um das zu ändern, braucht es eine Gesetzesänderung. Das ist nur eines von vielen Beispielen, bei denen die Bundesgesetze bewusst schikanös gestaltet sind, weil es das Ziel der türkisen ÖVP in unterschiedlichen Regierungskonstellationen war, die Zuwanderung so unattraktiv wie möglich zu machen. Und das ist ein Problem, weil wir brauchen qualifizierte Zuwanderung.

STANDARD: Nun wollen Sie die Verbesserungen mit 50 weiteren Mitarbeitern und einem telefonischen Servicecenter bewerkstelligen. Bisher war die Personalaufstockung auch für Ihre Vorgänger die Patentlösung, die Missstände sind trotzdem nicht verschwunden. Wieso soll es diesmal anders sein?

Wiederkehr: Der Ansatz kann nicht nur sein: mehr Personal. Auch wenn es dieses braucht, weil man auch durch das telefonische Servicecenter das Personal freispielt, um Verfahren zu beschleunigen. Aber es wird auch einen strukturierten Reformprozess der Behörde mit externer Begleitung geben. Und dazu gehören die Digitalisierung der Abteilung, eine bessere Arbeitsteilung und Schulungen der Mitarbeiter genauso dazu.

STANDARD: Nach welchen Parametern werden Sie beurteilen, ob Ihre Reformen Früchte getragen haben?

Wiederkehr: Die Weiterentwicklung einer Behörde mit 500 Mitarbeitern und 150.000 Verfahren im Jahr ist ein Marathon. Es wird zumindest ein Jahr dauern, um Rückstände, die durch Corona entstanden sind, abzuarbeiten. Im Zeithorizont von einem Jahr muss sichergestellt sein, dass Kunden eine schnelle, qualifizierte Rückmeldung erhalten. Und es muss sich abzeichnen, dass die Verfahrensdauer und Beschwerden abnehmen.

Endes dieses Jahres soll es schon Verbesserungen geben – etwa bei der Erreichbarkeit der Behörde.
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STANDARD: Von Migration zu Asyl: In der Debatte um die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge waren die Neos bisher recht leise. Stimmt der Eindruck?

Wiederkehr: Die Vorkommnisse in Afghanistan sind extrem tragisch. Sehen zu müssen, wie die Taliban Menschenrechte mit Füßen treten, ist eine Bankrotterklärung für das Engagements des Westens. Es zeigt auch, dass die europäische Außenpolitik zu schwach ist. Ich selbst habe schon früh bekräftigt, dass Wien als Menschenrechtsstadt im Rahmen europäischer und internationaler Resettlement-Programme besonders vulnerable Gruppen aufnehmen würde – allen voran Frauen und Mädchen sowie Ortskräfte, die sich für Freiheit und Demokratie eingesetzt haben.

STANDARD: Realistisch gesehen wird es aber keine gemeinsame europäische Aktion geben. Was sollte Österreich für bedrohte Afghanen von sich aus tun?

Wiederkehr: Das ist leider ein hypothetisches Szenario, denn die ÖVP hat menschliche Werte im türkisen Farbtopf versenkt. Aus meiner Sicht kann die Hilfe aber nur im internationalen Rahmen – etwa über das UNHCR – erfolgen. Österreich soll sich hier beteiligen, soweit das zu stemmen ist. Darüber hinaus müssen die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit erhöht werden. Die ÖVP redet immer von "Hilfe vor Ort", zugleich sind aber die Ausgaben für humanitäre Hilfe beschämend gering.

STANDARD: Wechseln wir zum Thema Corona. Die Infektionszahlen steigen, während die Impfungen stagnieren. Ein Anreiz zur Erhöhung der Impfquote könnte darin bestehen, Tests kostenpflichtig zu machen. Die Neos im Bund sind dafür, Wiens Stadtrat Peter Hacker (SPÖ) will die Tests hingegen gratis beibehalten. Wo stehen Sie?

Wiederkehr: Ich denke, dass jetzt noch nicht der richtige Zeitpunkt ist, die Gratistests abzuschaffen. Derzeit müssen wir genau beobachten, wie sich die vierte Welle entwickelt und welche Virusvarianten auftauchen. Allerdings finde ich es auch unverständlich, dass sich immer noch ein Drittel in Österreich nicht hat impfen lassen. Die Testinfrastruktur kostet den Staat und die Stadt über die Zeit sehr viel Geld. Daher wird man mittelfristig, ab Herbst, schon ernsthaft über Selbstbehalte für das Testen nachdenken müssen.

Das Interview hat der STANDARD unmittelbar vor der Pressekonferenz zur neuen Teststrategie geführt. Diese sieht nun vor, dass sich alle Schülerinnen und Schüler ab Herbst mindestens zweimal die Woche PCR-testen lassen – insofern sie nicht geimpft, genesen oder zu Hause getestet sind. Auch bei Volks- und Sonderschulen, wo die Teststrategie des Bundes greift, werden diese zum Einsatz kommen. Das Bildungsministerium begrüßt die Wiener Pläne. Das Ziel sei, dass Schulen auch weiterhin geöffnet bleiben, sagte Wiederkehr bei der Konferenz. Darum brauche es dieses engmaschige Sicherheitsnetz.

STANDARD: Beim neu angestellten Kindergartenpersonal haben Sie eine Impfpflicht festgelegt. Niederösterreich schreibt die Impfung auch bei den neuen Landeslehrern vor, Wien nicht. Warum nicht?

Wiederkehr: Bei den Lehrern fände ich es sinnvoll, das einheitlich zu regeln, weil der Bund hier das Dienstrecht gestaltet. Ich wäre auch dafür, dass ungeimpfte Lehrer während des Unterrichts FFP2-Maske tragen müssen, weil das mehr Sicherheit gibt. Hier müsste der Bund aktiv werden, danach sieht es aber leider momentan nicht aus.

Christoph Wiederkehrs grüne Oase im Rathaus.
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STANDARD: Zu Sommerbeginn gab es an Schulen Aufregung rund um die neue Art der Zuteilung von Lehrern ab Herbst. Auch Direktoren von "Brennpunktschulen" klagten, dass sie plötzlich mit weniger Stunden auskommen müssen. Sie haben Nachbesserungen angekündigt. Wie weit sind die gediehen?

Wiederkehr: Im Vorfeld der Reform ist die Kommunikation mit den betroffenen Schulen sicher nicht optimal gelaufen. Insgesamt ist das neue Modell mit klaren und transparenten Kriterien aber gerechter als das alte, denn da war die Ausstattung mit Lehrern oft davon abhängig, wie gut der Direktor vernetzt ist. Ich verstehe aber, dass gerade die Umstellung des Systems schwierig ist – und habe daher ja auch 2.200 zusätzliche Stunden herausgeholt, um Härtefälle abzufedern.

STANDARD: Wurden die nun schon vergeben?

Wiederkehr: Ja. Wir haben uns über den Sommer mit den entsprechenden Schulen zusammengesetzt und uns bemüht, dass dort keine Klassen zusammengelegt werden müssen und dass Mehrstufenklassen erhalten werden können. Es gibt im kommenden Jahr sogar mehr Mehrstufenklassen als in der Vergangenheit.

STANDARD: Kann man öffentlich einsehen, welchen Schulen die Stadt wie viel aus dem zusätzlichen 2.200-Stunden-Topf gegeben hat?

Wiederkehr: Es gab klare Kriterien, anhand derer die Schulen begründen mussten, dass sie besonderen Bedarf haben oder bestimmte Projekte umsetzen möchten. Die jeweiligen Schulen haben natürlich auch Einblick, wie sich ihr Stundenkontingent entwickelt hat und warum.

STANDARD: Aber werden diese Zahlen auch publiziert?

Wiederkehr: Ich setze hier auf die direkte Kommunikation mit den Schulen selbst. Eine öffentlich geführte Neiddebatte über die Ressourcen im Bildungssystem hilft niemandem weiter.

Wiederkehr will keine Neiddebatte in Sachen Stundenaufteilung an Schulen – darum gibt es hier keine vollständige Transparenz.
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STANDARD: Im Verlauf der Pandemie hat die Zahl der Eltern, die ihre Kinder von der Schule abmelden und daheim unterrichten wollen, stark zugenommen. Droht hier ein Problem?

Wiederkehr: Ja, ich denke, dass man hier genau hinschauen muss. In meiner Wahrnehmung sind zu den bisherigen Gruppen der Schulabmelder zwei neue dazugekommen. Einerseits gibt es Eltern, die große Angst haben, dass sich ihre Kinder anstecken könnten und sie deshalb nicht in die Klassen schicken wollen. Das kann ich nicht ganz nachvollziehen, denn wir haben ein gutes Testsystem. Ein gewisses Risiko bleibt immer, doch für die Entwicklung der Kinder ist ein soziales Umfeld zum Lernen extrem wichtig. Und dann gibt es noch die Gruppe der Corona-Leugner beziehungsweise jene, die das Testen der Kinder aus Prinzip ablehnen. Das finde ich schlichtweg unverantwortlich, den Kindern aus dieser Haltung heraus den Zugang zu Bildung einzuschränken.

STANDARD: Muss man den Heimunterricht und die Beweggründe der Eltern schärfer kontrollieren, um ein Abdriften zu verhindern?

Wiederkehr: Derzeit analysiert das Bildungsministerium die Hintergründe der Schulabmeldungen. Das ist ein guter Schritt – bevor man weitere ergreift, sollte man die Ergebnisse abwarten. (Theo Anders, Elisa Tomaselli, 27.8.2021)