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Europa kann nur bestehen, wenn es sich nicht zerreißen lässt bei den Gipfeltreffen.

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Er soll einen Brief schreiben an eine Unbekannte, das ist, um das Mindeste zu sagen, eine Herausforderung. Wenn es sich wenigstens um eine unbekannte Frau handelte und er könnte jemandem damit einen Gefallen tun, so wie damals beim Militär, als er den Gefühlsanalphabeten unter den Kameraden dabei half, ihre Liebesbriefe abzufassen.

Aber wie soll er sich an eine Gestalt aus der Mythologie wenden? Eine Figur, die nur im Reich der Fiktion je existiert hat? Auch wenn es für sie ein historisches Vorbild gegeben haben mag, die phönizische Königstochter aus Sidon, einer antiken Siedlung im heutigen Libanon.

Er soll einen Brief schreiben an eine Personifikation, Opfer einer Gewalttat, die auf dem Rücken eines göttlichen Stiers übers Meer entführt wurde, nicht ganz ans andere Ufer, nur bis zur Insel Kreta und dafür schließlich zur Namenspatronin eines ganzen Kontinents wurde. Er soll an Europa schreiben: die Frau, den Erdteil, die Verkörperung, einen Staatenbund, eine Idee? Nein, daraus wird nichts.

Wer will schon zu einem Fresko sprechen, einer Skulptur, einem Vasenbild? Aber er tut das fast jeden Tag. Auf seinem Schreibtisch steht eine Statuette, ein kleines Fragment aus geflecktem Marmor, das er eines Tages bei einem Pariser Antikenhändler gekauft hat. Meistens vergisst er sie, wenn er beim Schreiben auf seinen Bildschirm starrt. Manchmal aber fasst er sie doch ins Auge, streichelt sie mit den Fingerkuppen, wird wieder rückfällig, und alles fängt wieder von vorn an – eine Sehnsucht, die immer ungestillt bleibt.

Licht meines Lebens

Europa, Licht meines Lebens, könnte er sagen, in jenem Ton minnehafter Anbetung, den ein russischer Romancier von der ersten Note seines berühmt-berüchtigten Romans an als Sprachfeuerwerk entfachte: Eu-ro-pa. Aber die Zunge macht dabei nicht alliterationslustig zwei Sprünge vom Gaumen abwärts und tippt an die Zähne. Eher spielt sich die Wohllautbildung tief in der Mundhöhle ab, als ein Röhren im Rachen, bevor sie, von einem Verschlusslaut unterstützt, zu dem sich die Backen kurz aufplustern, auf einem der schönsten Vokale endet, der allen Zauber des Anfangs bewahrt.

Jedoch wird der Name mit einer Silbe eröffnet (eu), die bei den Griechen nur Positives signalisierte. Eu stand für das Gute (wie in Eunoia, Eudaimonia, Eurhythmia, später Eucharistie). Erinnern Sie sich an den Anfang des berühmten Romans eines Russen, der die Leidenschaft für ein halbwüchsiges Mädchen feierte? Dass er ihm ausgerechnet in dem Zusammenhang einfällt, ist gewiss bizarr. Vielleicht war ja auch die Prinzessin Europa eine nymphette wie diese Lo-li-ta? Nein, daraus wird kein Brief, auch wenn es sich, wie man gleich merken wird, auch hier um einen Fall von Anbetung handelt.

Europaverdrossenheit

Denn offen gesagt, er versteht nicht, warum die junge Frau heute einen so schlechten Ruf genießt. Er ist bestürzt über die in seiner Zeit sich ausbreitende Europamüdigkeit, Europaverdrossenheit quer durch alle politischen Lager, ja bis in die Reihen der Europaparlamentarier hinein. Er begegnet ihr täglich bei der Zeitungslektüre, er studiert sie eifrig, analysiert sie redlich, aber sie will ihm als Tenor nicht in den Sinn.

In fast jeder Gesprächsrunde ist er von Menschen umgeben, die ihm sagen, wie schlecht es um Europa steht, was alles schief läuft mit Europa, warum Europa schädlich ist für sie wie für jedes einzelne Land, das der Gemeinschaft angehört. Geklagt wird über die vielen undurchsichtigen Verordnungen, die bürokratische Einmischung in ihr Alltagsleben, von der Straßenbeleuchtung bis zu den Speisen auf dem Küchentisch.

Gejammert wird über die Selbstherrlichkeit der Brüsseler Bürokratie, Ungerechtigkeiten in der Geld- und Schuldenpolitik und bei der Verteilung von Lasten, über die Vorreiterrolle einiger Mitgliedsstaaten. Natürlich sieht jeder nur die Nachteile für das eigene Land, die Vorwürfe sind in sich widersprüchlich, kaum kohärent – am Ende aber läuft es darauf hinaus, man müsse sich vom Joch der EU befreien.

Bewundert werden Länder, die sich mit Referenden und Plebisziten aus den Europäischen Vertragswerken herauswinden oder jene, die gleich ganz aussteigen. Der Brexit hat es vorgemacht, warum nicht den Grexit wagen, den Frexit, Italexit usw.?

Gefühl des Alleinseins

Das führt dazu, dass er sich oft allein fühlt, wenn es um seinen Kontinent geht. Die allgemeine Anti-Europa-Stimmung betrübt ihn und verdirbt ihm neuerdings auch auf Reisen ins europäische Ausland die Laune.

Schlimmer noch, er hat begonnen, diese Europaskeptiker aller Couleur zu bedauern. Er sieht sie als einen Teil des Übels, eine der Ursachen dafür, dass die Probleme Europas so schwer zu lösen sind und das Projekt eines europäischen Einigungsprozesses mehr und mehr ins Stocken gerät.

Denn natürlich sind alle diese Europaskeptiker, die nur ein fragwürdiger Sammelbegriff unter eine Haube bringt, sich in kaum einem Punkt einig. Was sie vereint, ist lediglich das Zersetzungswerk, das Sägen an den Fundamenten, ein nihilistischer Korrosionseffekt.

Kleingläubige, denkt er: Sie diffamieren einen demokratischen Völkerbund, der das Größte ist, was die Geschichte in diesen Breiten je hervorgebracht hat. Lose gefügt, durchaus vom Respekt der nationalen Souveränität aller Bündnispartner getragen, das gegenseitige Verständnis der Kulturen fördernd, praktisch in vielerlei Hinsicht.

Sie kratzen und kritteln an Strukturen, die erst die Vernichtungswut zweier Kriege hat schaffen können als fragile Vernunftkonstruktion. Alle Ideale einmal beiseite, war es der bloße Überlebenswille, der sich auf diese Wirtschaftsgemeinschaft zur Verhinderung künftiger Kriege geeinigt hat, was denn sonst?

Ergebnis eines Lernprozesses

Man muss darüber nicht unbedingt ins Schwärmen geraten, aber man kann diese transnationale Allianz zunächst einmal positiv als das Ergebnis eines Lernprozesses betrachten, als einen Schutzbund gegen nationale Hypertrophie.

Oder, wie es die Gedächtnisforscherin Aleida Assmann einmal zusammengefasst hat: »Der europäische Traum ist… eine Antwort auf den Albtraum von Krieg, Zerstörung und Menschheitsverbrechen und beruht auf der Überzeugung, dass die europäischen Staaten gemeinsam in der Lage sind, diese Vergangenheit zu überwinden und die wachsenden Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu bestehen.«

Er weiß ja, wer heute die Feinde Europas sind, es sind dieselben wie gestern, nur in neuem Gewand: Nationalisten, Rechts- und Linkspopulisten, Identitäre, Volkstümler, religiöse Fundamentalisten, knallharte Faschisten, Revanchisten, Revierverteidiger aller Art. Seit langem beobachtet er sie mit dem größten Widerwillen, inzwischen sind sie wieder in allen Ländern West- und Osteuropas anzutreffen.

Eine wachsende Minderheit, haben sie längst auch das Europäische Parlament besetzt und bilden dort immer neue Fraktionen und Splittergruppen, die EKR, die EFDD, die ID und wie die Kürzel noch alle lauten.

Gewöhnungsprozesse

Die Gefahr geht aber nicht nur von ihnen aus, das Gefährliche ist der Gewöhnungsprozess. Umfragen ergeben immer wieder eine stabile Mehrheit von Befürwortern der Europäischen Union, aber wir haben aufgehört, uns über die Geschichtsvergessenheit ihrer Gegner zu wundern.

Die Kürze des historischen Gedächtnisses in den Gesellschaften scheint eine Konstante zu sein, wenn nicht gar eine Art Naturkonstante. Dabei geht es am Ende um nichts Geringeres als den Fortbestand der uns allen vertrauten Zivilisation.

Dass es für alle von Vorteil ist, Europäer zu sein, sagt sich leicht, im Gestöber der auseinanderstrebenden Interessen scheint die Einsicht nun wieder gefährdet. Jedes Schulkind kann die Vorteile an der Hand abzählen, was das Kind aber nicht weiß: wie historisch vergleichsweise jung und zerbrechlich die Vereinbarungen sind, die uns allen zugute kommen. Hier die wichtigsten noch einmal zum Mitschreiben:

  • Offene Grenzen von Finnland bis Portugal, von Polen bis Griechenland, visafreier Reiseverkehr
  • Die Versöhnung ehemaliger Gegner: Ein Friedensbündnis, das als Beispiel für die Welt gelten kann (und seit dem Scheitern von Locarno, der völkerrechtlichen Verträge von 1925, nicht seinesgleichen kennt)
  • Handelsabkommen zum gegenseitigen Vorteil
  • Arbeitsrecht und Sozialschutz
  • Überhaupt Rechtsstaatlichkeit
  • Der Europäische Gerichtshof
  • Sicherung der Menschenrechte in allen Mitgliedsstaaten
  • Förderung demokratischer Entwicklung, Verschrottung von Diktaturen
  • Neuerdings auch der Klimaschutz: die sogenannte Grüne Agenda
  • Das Wichtigste: Kooperation statt tödlicher Konkurrenz

Unverwüstlicher Optimismus

Das alles sind Europavisionen, und gemeint ist damit nicht der Schlagerwettbewerb gleichen Namens. Sein unverwüstlicher Optimismus mag manchem lächerlich erscheinen, das weiß er, und er nimmt es in Kauf. Er rechtfertigt sich durch Erfahrungen, die er am Beginn seines Lebens gemacht hat, als Kind des Sozialismus in jenem Teil Deutschlands, der damals zum Ostblock gehörte, territorial gesehen also zu Osteuropa.

Man kann gewiss sein, dass er die Ressentiments, die sich aus der Ost-West-Spaltung des Kontinents ergeben haben, bestens kennt und damit auch die Rückschläge, die sich seither in den Ländern des ehemaligen Ostens ergeben haben. Das ist der Grund, weshalb er den Populismus dort, die fremdenfeindlichen Aufstände und die Sehnsucht nach einer Alternative nicht nur für Deutschland mit besonderem Misstrauen verfolgt.

Er kennt die Brüder und Schwestern, und er kennt ihre Ängste, die nun als Argumente daherkommen, das Gefühl, kolonisiert worden zu sein, nur teilt er sie nicht. Der hier spricht, ist ein Privilegierter, das war in den Zeiten, in denen er aufwuchs, ein Begünstigter des Systems, einer der Sonderrechte genoss, der Parteibonze zumeist.

Den Albtraum beenden

Nur dass er damals selbst zu den Unterdrückten gehörte als Gegner der Herrschaft einer Einheitspartei. Er ist einer von denen gewesen, die damals, als es noch lebensgefährlich war, auf die Straße gingen, in der Hoffnung, den Albtraum zu beenden. Er war beim Ostdeutschen Frühling dabei, der wie so oft in seinem Land auf den Herbst fiel (Oktober, November 1989). Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, war seine naive, dann aber doch wirksame Devise.

Deshalb kann er all den Europagegnern nur zurufen: Stellen Sie sich einfach vor, Sie sind ein Oppositioneller in Ihrem Land. Nein, kein Flugzeug wird bei Ihnen zur Landung gezwungen, damit man Sie an Bord verhaften, später foltern und schließlich ins Lager stecken kann. Auch wird kein langer Arm irgendeines Autokraten oder Diktators in den Ländern, deren Passinhaber Sie sind, Journalisten auf offener Straße bedrohen oder missliebige Kritiker mit Nervengift umzubringen versuchen.

Insel im Mittelmeer

Zum Schluss möchte er von einer Insel erzählen. Nein, nicht von Kreta, wo die entführte Europa heimisch wurde in einer der vielen Versionen des Mythos. Jedes Jahr im Sommer, seit fünf Jahren nunmehr, besucht er sie wie um sich aufzuladen, die Batterie anzuschließen an einen Ursprungsmythos.

Ventotene heißt die Insel im Mittelmeer (Italienisch: die die Winde hält), sie gehört zu einem Archipel, den Pontinischen Inseln. Seit den Zeiten des Kaisers Augustus bis zu denen des Faschisten Mussolini war sie Verbannungsinsel, ein Ort der Ausweglosigkeit. Dorthin wurden zu Zeiten der Römer unliebsame Familienmitglieder deportiert, später Regimegegner aller Art, Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten.

Über zweitausend Jahre lang war Ventotene ein Ort der Unfreiheit. Von Augustus bis Mussolini haben die Mächtigen hier ihre Gegner entsorgt. Ein geheimes Band verbindet die Kaisertochter Iulia und ihren Hofstaat mit den Häftlingen der Bourbonenherrscher und den letzten Antifaschisten, die auf dieser Insel die besten Jahre ihres Lebens vergeudeten. Immer war es der übermächtige Staat, der seine gefährlichsten Gegner hier entsorgt hat. Als Internierungslager, das offiziell totgeschwiegen wurde, hat Ventotene seinen Spitznamen bekommen: »Die Insel, die es nicht gibt«.

Heldentaten und Humor

Von der düsteren Aura ist immer noch etwas zu spüren. Die Worte Exil, Verbannung und Kerker liegen in der Luft. Man bietet Führungen an zur cisterna dei carcerati, eine Plakette verweist auf die ehemalige Kantine, in der die Häftlinge für sich kochten, und das Archivio della Memoria (mit Dokumenten aus der Zeit der Verfolgung) unterhält ein eigenes Büro in einer Gasse oberhalb des Hafens.

Dominant, und schon von See aus gut sichtbar, ist das gelbe Castello, zinnenbewehrt und auf massivem Sockel, heute Sitz der Lokalverwaltung, an der großen Piazza gelegen, dem Treffpunkt aller auf dieser Insel. An seiner Ummauerung erzählen Schautafeln vom Leben der Verbannten, von ihren Werkstätten und Debattenzirkeln, den Heldentaten und dem unverwüstlichen Humor dieser Leute. Eines Tages entdeckte ich dort eine Schrift, von der ich nichts wusste: Das Manifest von Ventotene.

Geschrieben im Sommer 1941, als deutsche Panzerverbände tief in die Ukraine vorgedrungen waren und es so aussah, als würde die Wehrmacht demnächst Moskau erobern. In dieser Stunde der historischen Sonnenfinsternis springen ein paar gescheiterte Linke, die der Hitler-Stalin-Pakt von ihren Illusionen geheilt hatte, über ihren Schatten und einigen sich auf ein Zukunftskonzept für den Fall, dass der Blitzkrieg scheitern und Deutschland aufgeben würde, auf ein Programm, das alle tödlichen Differenzen zwischen den Vertretern der progressiven Parteien überwinden sollte.

Gründungsdokument

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Das Wichtigste an Europa: Kooperation statt tödlicher Konkurrenz und die Sicherung der Menschenrechte.
Foto: Picturedesk.com / laif / Rebecca Marshall

Höchste Zeit: die westliche Zivilisation stand am Abgrund. Ein Sieg Nazi-Deutschlands, schreiben sie, »würde die endgültige Konsolidierung des Totalitarismus in der Welt bedeuten.« Altiero Spinelli und Ernesto Rossi hießen die Verfasser. Zu den Verbannten gehörte auch Sandro Pertini, einer der späteren Staatspräsidenten Italiens, ein Freund Helmut Schmidts in den seligen Zeiten der Völkerverständigung nach dem Krieg, als Italiener und Deutsche noch auf höchster Ebene miteinander sprachen (wovon heute nicht mehr die Rede sein kann).

Die Schrift gilt als das Gründungsdokument einer Europäischen Föderalistischen Bewegung. Den Autoren stand als Vorbild die Amerikanische Verfassung vor Augen, das Modell ihrer Bundesstaaten. Zwei Jahre nach der Niederschrift kam es in Mailand zu ihrer ersten öffentlichen Deklaration: "Für ein freies und einiges Europa".

Das Manifest von Ventotene ist die Inspirationsquelle aller späteren europapolitischen Grundsatztexte bis hin zum Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2007. Die Befürworter einer Europäischen Union konnten sich immer auf diese erste bescheidene Magna Charta berufen. Ein kleiner Kassiber, der große Geschichte schrieb.

Auf Zigarettenpapier gekritzelt, wurde das Schriftstück im Bauch eines Brathuhns von der Insel geschmuggelt, nachher vervielfältigt und als Flugblatt in Mailand und Rom verteilt. Ein paar weitreichende Gedankenskizzen wurden zur Grundlage des sogenannten "Hertensteiner Programms", das in der Schweiz nach Kriegsende dann in zwölf Thesen verabschiedet wurde. Damit war das neue Europa zum ersten Mal in Umrissen sichtbar geworden.

Ausgangsposition

Das war die Ausgangsposition: Ein paar internationalistisch gesinnte Linke machen sich von Moskau unabhängig, überwinden ihre Fraktionsstreitigkeiten, hebeln die Parteidisziplin aus. Die Diktatur des Proletariats haben sie als politisches Ziel ad acta gelegt. Diese Linken neuen Typus wussten nur eines, sie wollten nicht mehr Geisel sein einer Politik von Dinosaurierregimen, die den alten Kontinent unter sich aufteilten und in ihrer Revolutionsexportlogik alles missbrauchten, was hoch und heilig war: Freiheit und Frieden und soziale Gerechtigkeit.

Darunter auch die Idee von einem Pan-Europa, die zuletzt ein Kolonisator wie Heinrich Himmler mit seiner Waffen-SS noch beschworen hatte. Die Totengräber (und Judenmörder) mussten erst abtreten, bevor die Idee eines freien Föderalismus in Europa Wirklichkeit werden konnte.

Aber auch dann war die Gefahr noch lang nicht gebannt. Die Autoren des vergessenen Manifestes sahen sehr wohl, dass der Nationalstaat sich wieder konstituieren würde, und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis jeder Einzelstaat wieder in die Hände reaktionärer Kräfte fallen und aufrüsten würde.

Einflusszonen

Es war ihnen klar, dass Amerika und seine neuen Verbündeten im Interesse ihrer Einflusszonen das Kräftegleichgewicht bald wieder herstellen und die internationalen Gremien in ihrem Sinne beeinflussen würden. Die heutige Krise mit Populismus, Neonationalismus, neu erstarkendem Militarismus sahen sie voraus. Selbst die Möglichkeit, dass Amerika eines Tages als Hegemon ausfallen konnte.

Eine kurze Zeit lang stand das Zeitfenster offen – gerade lang genug, um den preußischen Militarismus (Geburtsfehler des Deutschen Reiches nach dem Sieg über Frankreich) endgültig zu zerschlagen. Eine auf gegenseitige Interessen abgestimmte Wirtschaft, selbst eine gemeinsame Armee war nun denkbar.

»Die Europäische Revolution muss eine sozialistische sein«, schreiben sie, grenzten sich aber sogleich von den alten, radikalmarxistischen Methoden der Arbeiterbefreiung ab, von den Methoden der Zwangskollektivierung und vom sowjetischen Staatskapitalismus der Kolchosen und Kombinate, erst recht von der faschistischen Idee des Korporatismus. Jede Form von Nationalbolschewismus, herrischer Autarkie, die wieder nur in Hochrüstung und Ideologieexport gipfeln würde, sollte ein für allemal abgeschafft werden.

Utopie

Ein Traum, was sonst? Utopien entstehen auf Inseln, siehe Thomas Morus, sie müssen per se nichts Gutes verheißen, wir kennen genügend mörderische Utopien aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Diese hier war von anderer Qualität. Um es kurz zu machen, mit dem Manifest einer kleinen Gruppe weitblickender politischer Aktivisten wurde Ventotene zur Wiege Europas.

Wenn ich also von dieser Insel erzähle, zu der ich immer wieder zurückkehre, ist dies gewiss keine Märchenerzählung. Es ist die Liebeserklärung eines Menschen, der die Freiheit gewollt hat, die ein geeintes Europa ihm einst verhieß. Und er hat sie bekommen, das wird er nicht mehr vergessen.

Europa: die Insel, die es nicht gibt. Das heißt auch, in Zeiten der Globalisierung ist Europa lange schon keine Insel mehr, es gilt sich zu wappnen in einer Welt der großen Imperien Amerika und China, mit Russland als schwarzem Schaf am Verhandlungstisch. Europa kann nur bestehen, wenn es sich nicht zerreißen lässt bei den Gipfeltreffen.

Ein abgründiges Symbol

Selten bin ich auf meinen Reisen in Souvenirläden fündig geworden. Schlüsselanhänger, lackierte Muscheln, Trachtenpuppen, bemalte Keramikteller, Volkskunst aller Art, zumeist doch nur Massenware made in China, aus den Feriensommern mit nach Hause zu tragen, ist mir immer absurd erschienen.

Einmal aber bin ich doch fündig geworden, das war vor drei Jahren auf Ventotene. Eine kleine blaue Europafahne, wie sie die Segler an den Mast ihrer Schiffe binden, war das einzige Mitbringsel, auf das ich heute noch stolz bin. Ich trage es seither bei mir in der Reisetasche und kann es zur Not als Einstecktuch verwenden. Ein abgründiges Symbol: zwölf goldene Sterne, um eine leere Mitte gruppiert.

In diesem Jahr waren die Fähnchen aus allen Andenkengeschäften der Insel verschwunden. Waren sie einfach ausverkauft, hatten die Ladenbesitzer nur versäumt, sie nachzubestellen oder waren sie selbst, enttäuschte Bürger eines Kontinents, der keine Solidarität mehr kannte, übers Jahr ins Lager der Europaskeptiker gewechselt? Der Geist von Ventotene – hatte auch er sich etwa verflüchtigt? War die Idee zu groß gewesen und schließlich nicht mehr mitreißend und profitabel genug?

So spricht und sinnt er, der Europapatriot. Und ist froh, dass er keinen Brief an die Angebetete zu schreiben hatte und folglich auch nicht mit Abschiedsgrüßen enden muss. (Durs Grünbein, ALBUM, 29.8.2021)