Im ersten Covid-Jahr hatten sich noch viele gewundert: Während in Deutschland die "Querdenker" mobilisierten, gab es in Frankreich, dem Land des permanenten Protestes und der tief verankerten Impfskepsis, nur wenige Anti-Impf-Demos. Erst mit der Ankündigung eines Impfpasses durch Präsident Emmanuel Macron gab es im Juli den Funken. Seither gehen jedes Wochenende rund 200.000 Impf- und Impfpassgegner – die Beteiligung stagniert auf hohem Niveau – in vielen Städten auf die Straße, um "Freiheit!" zu skandieren.

Konkret wenden sie sich auch gegen Einzelvorschriften wie etwa die Pflicht für Wirte, sogar auf Terrassen einen Gesundheitspass zu verlangen.

Hunderttausende machen in Frankreich gegen den Impfpass mobil.
Foto: Fred TANNEAU / AFP

"Liberté" ist der einzige verbindende Slogan einer sonst bunt zusammengewürfelten Bewegung. Immer wieder gibt es offenen Zoff in der Menge. In Montpellier gingen vor einer Woche linke "Antifas" und Identitäre der "Ligue du Midi" (Liga Südfrankreich) mit Holzbrettern, Stöcken und Fäusten aufeinander los – mitten in der gleichen Demo.

In Paris werden auch an diesem Samstag getrennte Umzüge organisiert. Die politischen Differenzen sind zu groß, auch wenn der Kampf gegen "Macrons Impfpass" die Teilnehmer eint. François Ruffin, ein prominenter Vertreter der linken "Unbeugsamen", distanziert sich vom Umzug des Le-Pen-Dissidenten Florian Philippot. Dieser politische Trittbrettfahrer, Chef einer Minipartei namens Les Patriotes (0,7 Prozent bei den letzten Europawahlen), versucht sich über die der Anti-Vax-Bewegung für die Präsidentschaftswahlen von April 2022 in Stellung zu bringen.

Parallelen zu den Gelbwesten

Andere Organisatoren der Samstagsdemos sind neu im politischen Geschäft, in den sozialen Medien aber omnipräsent. Ein Anwalt namens Brusa Carlo Alberto kommt auf 50.000 Twitter-Abonnenten; Louis Fouché, ein Marseiller Anästhesist, erhielt für sein Anti-Vax-Manifest aus dem Stand 43.000 Unterschriften.

Auffällig ist die soziologische Nähe der Impf(pass)gegner zu den Gelbwesten. Viele stammen aus verarmten oder peripheren Gebieten der südlichen Landeshälfte – von der Côte d'Azur über die Provence bis in die Pyrenäen. Dort begegnet man allem, was aus Paris kommt, prinzipiell skeptisch. So liegt im Midi auch die Impfrate bedeutend tiefer. Sie zeugt von einer tiefen Angst der Franzosen vor dem Impfen. Während man in der Hauptstadt stolz ist auf die Errungenschaften Pasteurs, erinnert man sich in Südfrankreich zuerst an die zahlreichen Medizinskandale (HIV-Blut, Mediator), die hunderte Menschenleben gekostet hatten.

Misstrauen wird gezielt geschürt

Verschwörungstheoretiker schüren dieses Misstrauen, bis daraus Paranoia wird. Und Antisemitismus. Bei einer Kundgebung in Besançon wandte sich einer Mitte August mittels Transparent gegen den "Genozid der Goyim" (Nichtjuden). Andernorts stecken sich Demonstranten den gelben Judenstern an, um sich als Verfolgte zu geben.

Beliebt ist die verklausulierte Frage "Wer?". Ein pensionierter General und Lepenist hatte im französischen Fernsehen insinuiert, hinter der Covid-Krise und der Impflobby steckten die Juden. Er sprach zwar nur von "einer Gemeinschaft, die Sie kennen", als ihn ein Journalist darauf ansprach und wiederholte fragte: "Mais qui?" – wer denn?

Die ehemalige Le-Pen-Gefolgsfrau Cassandre Fristot führte dann aber in Metz ein Transparent mit, auf dem die Frage "Mais qui?" von zahlreichen jüdischen Namen umgeben war: Ex-Premier Laurent Fabius, TV-Besitzer Patrick Drahi, Financier George Soros, Regierungssprecher Gabriel Attal, Philosoph Bernard-Henri Lévy, um nur ein paar zu nennen.

Anstachelung zum Judenhass

Fristot muss Mitte September wegen Anstachelung zum Judenhass vor Gericht. Die Frage "Mais qui?" hat sich in den sozialen Medien und bei Impfgegnern bereits als Chiffre für die angeblichen Drahtzieher der Covid-Krise etabliert.

Macrons Name fand sich – vielleicht wegen seiner früheren Tätigkeit für die Bank Rothschild – ebenfalls auf dem Plakat. Er bildet für die heterogenen Impfpassgegner einen noch stärkeren Kitt als der Antisemitismus. Bei den Demos und in den sozialen Medien brandet dem Präsidenten regelrechter Hass entgegen.

An sich könnte er darüber hinwegsehen: Seit ein paar Monaten schlägt er sich an der Covid-Front besser als im vergangenen Jahr, weshalb seine Umfragewerte wieder steigen. Nur wenige Monate vor den nächsten Präsidentschaftswahlen ist das nicht unerheblich. Aber es ist auch trügerisch. Selbst die Macronisten müssen zugeben, dass der unerfahrene und abgehoben agierende Präsident die Nation mit dem Impfpass weiter gespalten hat. In Frankreich nimmt die soziale Spannung ähnlich zu wie vor zwei Jahren mit den Gelbwesten.

Auswirkungen auf Wahl 2022

Macron stand die damalige Krise nur zum Preis einer zerrütteten Amtszeit aus. Auch jetzt dürfte er sich dank der schweigenden Impfmehrheit im Land gegen die "Anti-Vaccin" durchsetzen. Neue politische Scherben und zwei unversöhnliche Lager wären aber unvermeidlich. Zahlreiche ehemalige Macron-Wähler von 2017 dürften sich fragen, ob sie ihm bei Präsidentschaftswahlen im kommenden Frühling nochmals die Stimme geben wollen, wenn sie damit riskieren, dass Frankreich damit noch ganz auseinanderfällt. (Stefan Brändle aus Paris, 28.8.2021)