Sind wir gerade Zeugen (und Betroffene) einer weltpolitischen Wende? Eine Bande von bärtigen Finsterlingen, deren komplette Weltsicht aus einem Rückgriff auf das siebte Jahrhundert besteht, hat der Führungsmacht des "Westens" eine schwere Niederlage und Demütigung beigebracht. Hat damit der radikale Islamismus einen entscheidenden Sieg über "den Westen" errungen, und ist dessen Vormarsch nun unvermeidlich?

Verkauf von Flaggen der Taliban und Poster des Führers Mullah Baradar in Kabul.
Foto: AFP/AAMIR QURESHI

Wenn man die Antworten auf die Zukunft nicht recht weiß, greift man gerne auf die Geschichte zurück. Ein expansiver, eroberungswütiger Islam hat es zweimal bis in die geografische und machtpolitische Substanz Europas geschafft: Im frühen achten Jahrhundert eroberten die Araber in einem beispiellosen Siegeszug zunächst die Südküste des Mittelmeeres, dann Spanien und drangen bis nach Westfrankreich vor, ehe sie sich 732 nach einer verlorenen Schlacht auf die Iberische Halbinsel zurückzogen, die sie bis ins 15. Jahrhundert hielten.

Die Türken eroberten 1453 Konstantinopel, nachdem sie schon vorher fast den gesamten Balkan besetzt hatten. Zwei Versuche, Wien einzunehmen, scheiterten, aber es bedurfte eines gut hundert Jahre dauernden "Roll-back", um die Gefahr für Europa zu bannen. Griechenland wurde überhaupt erst 1829 befreit.

Der nun folgende Niedergang des Osmanischen Reiches, aber auch seiner arabischen Nachfolgestaaten wird von etlichen ernst zu nehmenden Autoren auf eine angebliche oder tatsächliche Eigenschaft des Islam zurückgeführt: den geistigen Stillstand, die Denkverbote, den Mangel an freier Diskussion. Das habe zu enormer wissenschaftlich-technologischer Rückständigkeit und in der Folge zur Überwältigung durch "den Westen" geführt, der die Aufklärung hinter sich hatte. Die Antwort großer islamischer Erweckungsbewegungen wie der Muslimbrüder oder der Salafisten sind einerseits gewaltige Verschwörungstheorien, weil man sich anders die eigene Unterlegenheit nicht erklären konnte; andererseits die Parole, man müsse nun noch frömmer werden, einen noch strengeren Islam praktizieren.

Systematische Grausamkeiten

Mit dieser Glaubensstärke, unterlegt durch die Bereitschaft zu systematischen Grausamkeiten, kann man – wie die Taliban – die USA aus Afghanistan vertreiben. Man kann – wie der noch brutalere IS und seine Ableger – noch genügend Terror verbreiten, um den Westen in Schwierigkeiten zu bringen. Aber man kann kein mächtiges islamisches Reich schaffen, wohl nicht einmal Afghanistan halbwegs regieren.

Der radikale Islam kann dem Westen, vor allem Europa, ungeheure Schwierigkeiten machen, aber er kann ihn nicht "überrennen" oder "besiegen". Auch nicht durch "Unterwanderung". Besiegen kann sich der Westen nur selbst, indem er seine Prinzipien – liberale Demokratie, Rechtsstaat, Pluralismus, freie Diskussion, Humanismus – aufgibt oder schwer beschädigt. Wohlstand und wissenschaftlicher Fortschritt fußen letztlich auf freiem Denken (gilt auch für China, davon ein andermal).

Es sind in Europa und den USA allerdings Kräfte am Werk, die – unter anderem mit Berufung auf die "islamische Gefahr" – das westliche Erfolgsmodell der Freiheit demolieren wollen: Polen, Ungarn, Slowenien, diverse rechtsextreme Parteien in Westeuropa und die völlig ins Rechts-Rassistische abgeglittene Republikanische Partei in den USA.

Aus Furcht vor dem Islam autoritär werden?

Der politische Islam fordert die westlichen Gesellschaften heraus, kein Zweifel, aber er kann sie nicht zerstören. Das können nur sie selbst. (Hans Rauscher, 27.8.2021)