Liegengelassene Akten in der MA 35 haben schon viele Ausländerinnen und Ausländer in Wien in die Illegalität getrieben.

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Ganze 16 A4-Seiten hat es letztlich gebraucht, verfasst von Peter Marhold, dem Obmann der NGO Helping Hands, die Beratung zum Fremdenrecht anbietet. Dann ging es mit der Aufenthaltserlaubnis für Dagmar Khamooshis Mann plötzlich schnell. Ein kleiner Trost für die neun Monate, in denen die Zukunft der vierköpfigen Familie in der Schwebe hing. Die Zeit wurde knapp für sie, weil die Personen, die ihnen bei der MA 35 gegenübersaßen, nicht halfen.

Kurz vor Corona übersiedelte die Familie, sie Österreicherin, er US-Bürger, mit ihren zwei Kindern, Doppelstaatsbürger und damit auch Österreicher, aus dem Irak nach Wien. Weil sie im Irak keinen Antrag stellen konnten, führte sie ihr erster Weg zur MA 35. Als von dort in der gesetzlichen Frist von 90 Tagen keine Rückmeldung kam, hörten sie sich bei NGOs um. Ihr Ratschlag: einen zweiten Antrag auf Familienzusammenführung nach EU-Recht stellen.

Versickerte Anträge

Sie taten das, doch beim EWR-Referat der MA 35 kam das schlecht an. Zwei Monate später teilte man den Khamooshis dort mit, dass das Ansuchen nicht durchgehen werde. Sie sollten es zurückziehen – und einen weiteren Antrag stellen. Dieser reichte dann ebenfalls nicht, zwei Monate später kam die Absage.

Weil sich Herr Khamooshi bereits länger als die erlaubten 90 Tage in Österreich aufhielt, müsse er in den USA erneut ein Ersuchen stellen. "Sie fanden es zumutbar, uns für drei Monate oder länger zu trennen", sagt Dagmar. Sie schluchzt. "Entschuldige, mir kommen jetzt noch die Tränen."

Zu diesem Zeitpunkt wandte sich das Paar an Helping Hands. Nach deren "vernichtender" Beschwerde sei der Spuk endlich vorbei gewesen, schildert Dagmar. Ihr Mann darf vorerst für ein Jahr legal in Österreich leben.

Die Khamooshis sind kein Einzelfall. Seit Tagen häufen sich Berichte über Leidenswege von Antragstellerinnen und Antragstellern bei der MA 35. Seit ein Exmitarbeiter der Wiener Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsbehörde in einem Ö1-Interview sein Schweigen brach und Verstörendes über die dortigen Zustände berichtete – etwa, dass man Klientenanrufe nicht entgegennehme, weil sich das herumsprechen und weitere Kontaktversuche provozieren könne –, scheint ein Bann gebrochen.

Schon seit vielen Jahren

Den MA-35-erprobten Wiener Rechtsanwalt Wilfried Embacher wundert das. Dass sich die Behörde abschotte und existenziell entscheidende Beschlüsse über Aufenthaltstitel oder Einbürgerung monate- bis jahrelang verzögere, sei für ihn und seine Mitarbeitenden "so alltäglich, dass wir uns fragen, warum das erst jetzt publik wird". Auch, dass manche MA-35-Referenten den vorsprechenden Ausländerinnen und Ausländern zugespitztes Misstrauen entgegenbrächten, sei nicht neu.

In Wahrheit, so Embacher, seien die unhaltbaren Zustände schon seit vielen Jahren so. Es handle sich um Symptome einer "systematischen Struktur", die schon lange vor Corona, das seit dem Lautwerden der Beschwerden von den Verantwortlichen als Problemauslöser vorgeschoben werde, bestanden habe.

Helping-Hands-Obmann Marhold bestätigt diesen Befund. Sein Blick auf die Zustände in der MA 35 und ihren Vorläuferstellen reicht dabei besonders weit zurück in die Vergangenheit – bis 1993, als er in der Bundeshauptstadt als Fremdenrechtsberater begann.

Die Geschichte der einzigen ausschließlich mit Ausländerinnen und Ausländern beschäftigten Behörde der Stadt Wien schildert er als Aneinanderreihung unzureichender Versuche, mit einer schrittweise sich ändernden Gesetzeslage und stetig zunehmenden Antragszahlen umzugehen.

Unterschiedliche Voraussetzungen

Tatsächlich sind in Wien besonders viele Menschen auf die Fremdenbehörde angewiesen, laut Statistik Austria haben von 1,9 Millionen Einwohnern 604.000 eine andere als die österreichische Staatsbürgerschaft. 1992 wurden Aufenthalts- und Niederlassungsangelegenheiten von der Bundes-Fremdenpolizei in einem ersten Schritt den Ländern überantwortet, 1997 und 2006 traten weitere tiefgreifende Novellen in Kraft.

Damit einhergegangen sei eine "Zersplitterung der Aufenthaltstitel", sagt Marhold – von vier im Jahr 1992 auf derzeit über zwanzig, "mit Absurditäten wie etwa der aufenthaltsrechtlichen Unterscheidung von Schülern und Studierenden". Jeder dieser Titel habe eigene Voraussetzungen.

Für neu rekrutierte MA-35-Referenten ohne juristische Vorbildung – und das sind bei der hohen personellen Fluktuation in dieser Behörde nicht wenige – ist das eine große Herausforderung.

Fremdenfeindliches Politklima

Als Berater der Antragsstellerinnen und Antragstellern setzt sich Marhold mit der inzwischen vierten Leitung der MA 35 und ihrer Vorläuferstellen, der MA 62 und MA 20, auseinander. Er erzählt von einer unehrenhaften Pensionierung nach einer strafrechtlichen Verurteilung wegen Geschenkannahme an der Spitze der Behörde in den 1990er-Jahren, von einem anderen "Frühstücksdirektor", der Probleme liegen ließ, sowie den rigiden Führungsansprüchen einer dritten Leitung um die Jahrtausendwende.

Im zunehmend fremdenfeindlichen Politklima der Republik habe man versucht, allfällige Verdachte von Ausländerfreundlichkeit im roten Wien gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Mitte der Nullerjahre, so Marhold, habe ein kompetenter stellvertretender Leiter, ein Jurist, Hoffnung auf grundlegende Verbesserungen erweckt. Doch sehr bald sei der Mann schwer erkrankt und ausgeschieden. Danach sei die stellvertretende Leitung jahrelang nicht besetzt gewesen.

Wiederkehrs Wandlung

Auch hätten sich viele der über die Jahre zuständigen Stadträtinnen und Stadträte gescheut, die strukturellen Probleme der Abteilung anzugehen. Ausländer seien nicht oder nur eingeschränkt wahlberechtigt, darauf weist in diesem Zusammenhang auch der Politologe Gerd Valchars hin. Daher sei die MA 35 politisch ein "ungeliebtes Kind".

"Die letzte Stadträtin, die sich hier engagiert hat, war Sonja Wehsely", sagt Marhold. Die übergab den Bereich 2017 an Jürgen Czernohorszky, ebenfalls SPÖ. Auch dem aktuell in Verantwortung stehenden Stadtrat Christoph Wiederkehr von den Neos stellt er kein gutes Zeugnis aus. Als Oppositionspolitiker habe sich Wiederkehr für Verbesserungsvorschläge interessiert, nun aber ergehe er sich in Beschwichtigungsversuchen.

Wegschauen jedoch wird an den unhaltbaren Zuständen in der MA 35 nichts ändern. In dem Amt hat sich ganz offensichtlich eine Behördenkultur aufgebaut, die Politikwissenschaft und Organisationsberatung als "toxisch" charakterisieren.

Ein Symptom dafür sei das von dem Ö1-Informanten geschilderte Nichtabheben der Telefone, sagt Sören Buschmann, Unternehmensberater mit Schwerpunkt Human-Resources-Management. "Ich würde das als Dekonstruktionshandlung bezeichnen, als Sabotage und gleichzeitigen Hilfeschrei", sagt der Geschäftsführer bei Buschmann & Partners Corporate Architects. Das führe zum "Zusammenbruch der Arbeit".

Immer noch zu wenige Posten

Warum ist das so? Der Politologe Valchars sieht mehrere Gründe. Erstens mangle es der Behörde an Ressourcen, finanziell wie personell. Die nun angekündigten 50 Zusatzposten seien ein Schritt in die richtige Richtung, "aber immer noch zu wenig". Zweitens sei die Gesetzesmaterie "nicht einfach anzuwenden", was in Verbindung mit dem Ressourcenmangel drittens – dazu führe, "dass die MA 35 eine Behörde ist, bei der man nicht gern arbeitet".

Tatsächlich berichten Leute aus anderen Behörden der Stadt Wien von interner Personalsuche für die MA 35 als "Strafversetzung". Der Eifer dieser widerwillig Verpflanzten sei entsprechend gering. Hinzu kämen die rassistischen Einstellungen mancher MA-35-Kollegen, über die ein Exmitarbeiter am Freitag in Heute sprach. Akten würden bewusst liegengelassen, um gegen Zuwanderung zu protestieren.

Wie kann man eine solche Situation in den Griff bekommen? Wo ansetzen, wo weitermachen? Im Standard-Interview kündigt Stadtrat Wiederkehr einen "strukturierten Reformprozess mit externer Begleitung" an. Dazu rät auch Human-Resources-Experte Buschmann – doch gleichzeitig warnt er: "Derartige Prozesse dauern lange."

Zwei Jahre Beratung, "ohne Schuldzuweisungen" setzt er an, um die behördeninterne Feindseligkeit in den Griff zu bekommen: "So etwas hält sich zäh." Immerhin aber: Den Ansprechbaren unter den MA-35-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dürfte nach Berichten wie jenen über Familie Khamooshi inzwischen klar sein: "Änderung ist dringend angesagt." (Irene Brickner, Elisa Tomaselli, 27.8.2021)