Schon seit Juli ziehen die Infektionszahlen wieder stärker an.

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Trotzdem ist die Lage eine andere als im vergangenen Herbst, da mittlerweile knapp 60 Prozent der Bevölkerung geimpft sind. Deshalb geht die Bundesregierung jetzt von der Sieben-Tage-Inzidenz als alleinigem Parameter für Maßnahmen ab und knüpft diese ab sofort auch an die Durchimpfungsrate in einem Bezirk und an die Auslastung der Krankenhäuser. Ist das eine Impfpflicht durch die Hintertür – oder der beste Weg, das Infektionsgeschehen zu steuern?


Für

Genau vor einem Jahr sah Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) das "Licht am Ende des Tunnels". Nach einem schwierigen Herbst, erklärte er in seiner damaligen Rede, werde die Krise wahrscheinlich schneller vorüberziehen, als es zuvor viele Experten vorausgesagt hätten. Der heurige Sommer sollte die ersehnte Rückkehr zur Normalität bringen. Im August 2020 war die Impfung zwar noch in recht weiter Ferne, aber Kurz legte sich bereits fest: "Wer sich nicht impfen möchte, muss es nicht tun."

In den vergangenen zwölf Monaten hat sich da doch einiges gedreht. Der Sommer war weitestgehend normal. Doch schon seit Juli ziehen die Infektionszahlen wieder stärker an. Am Freitag stand die Statistik bei 1600 Neuerkrankungen – trotz Impfung.

Das Covid-19-Prognose-Konsortium rechnet damit, dass sich die Corona-Infizierten auf den Intensivstationen in den nächsten zwei Wochen verdoppeln werden. Das wären geschätzt 180 Personen. Gegenwärtig sind vier Prozent der Intensivbetten belegt. Beides lässt zwar noch Luft zur 33-prozentigen Belegung, die als systemkritisch beschrieben wird. Doch steuern wir wieder auf einen heißen "Corona-Herbst" zu?

Public-Health-Experte Hans-Peter Hutter vermutet, dass es "nicht so gravierend wird wie letzten Herbst", doch erledigt sei die Pandemie längst noch nicht. "Die Überlastung einzelner Spitäler, vielleicht aber auch flächendeckend, ist Stand heute definitiv nicht ausgeschlossen", sagt Hutter.

Deshalb schaut auch die Bundesregierung angesichts des gebremsten Impffortschritts mit Sorge auf die nächsten Wochen. Nur rund 58 Prozent sind in Österreich vollimmunisiert. Vor allem Ungeimpfte sind es, die nach einer Corona-Erkrankung auf der Intensivstation landen. Kanzler Kurz und sein Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) sahen sich zu einer unpopulären Maßnahme gezwungen. Sollten die Infektionszahlen weiter ansteigen, könnten in einem ersten Schritt Clubs und die Nachtgastronomie nur noch für die Geimpfte und Genesene mit einmaliger Auffrischungsimpfung zugänglich sein, das ist die 1G-Regel. Getestete Ungeimpfte als stärkere Infektionstreiber müssten fernbleiben. Das klingt schon mehr nach Impfpflicht, wenn auch nur partiell.

Im Interview mit oe24.tv am Donnerstag sagte Kurz zwar, dass er auch bei steigenden Corona-Zahlen keinen Lockdown für Geimpfte will: "Bevor wir das Leben für alle Menschen einschränken, wird es – Stichwort 1G-Regel zum Beispiel in der Nachtgastronomie – zunächst einmal den Versuch geben, dass zumindest für Geimpfte offen gehalten wird." Doch "zunächst einmal" klingt so, als hätte es der Kanzler nicht gänzlich ausgeschlossen, dass es allgemeine Einschränkungen geben könnte.

Vorläufig erhöht die Regierung weiter den Impfdruck. Passend dazu erließ Gesundheitsminister Mückstein, dass sich regionale Verschärfungen in Hochrisikogebieten künftig nicht nur an der Sieben-Tage-Inzidenz, sondern auch an der Durchimpfungsrate orientieren.

Der Molekularbiologe Michael Wagner von der Universität Wien sieht das kritisch. "Relativiert man die Inzidenz, indem man sie an die Spitalsauslastung und die Impfquote knüpft, vernachlässigt man Langzeitfolgen wie Long Covid", sagt er. Das gelte vor allem für unter Zwölfjährige, da für sie noch kein Impfstoff zugelassen ist und sie wegen einer Corona-Erkrankung auch wesentlich seltener im Krankenhaus behandelt werden müssen. Die Orientierung an einer solchen risikoadjustierten Inzidenz nehme unweigerlich sehr viele Infektionen in dieser Gruppe in Kauf.

Wider

Gut zwei Wochen ist es her, dass Simulationsforscher Nikolaus Popper in der Zeit im Bild sagte, ein weiterer Lockdown sei nicht nötig. Seither sind Neuinfektionen und Inzidenz massiv gestiegen, Hospitalisierungsrate und Intensivbettenbelegung haben sich etwa verdoppelt, Tendenz weiter steigend. Da drängt sich die Furcht vor dem nächsten Lockdown förmlich auf. Doch noch muss man sich deshalb keine Sorgen machen.

"Wir sind jetzt in einer Situation, wo die Nation nicht mehr so empfänglich ist für das Virus. Wir haben über fünf Millionen doppelt Geimpfte und über 600.000 Genesene, die alle einen sehr guten Infektionsschutz haben. Die Ungeimpften sind natürlich ein Pool, den man nicht vernachlässigen darf, aber es ist ein Unterschied, ob der drei Millionen ausmacht oder neun", betont Herwig Kollaritsch, Infektiologe an der Med-Uni Wien.

Den Erlass des Gesundheitsministeriums sieht er positiv, denn "damit ist eine wesentlich präzisere Situationsbeurteilung möglich. Wir haben mehrere Parameter, um die Lage zu beurteilen und Maßnahmen zu argumentieren. Ich denke, dann kann sie auch jede einzelne Person besser nachvollziehen."

Ein neuerlicher Lockdown wird aus heutiger Sicht, so Kollaritsch, wohl nicht nötig sein – natürlich immer abhängig von der weiteren Entwicklung: "Es gibt viele Unbekannte. Wie stark wirkt sich der Faktor der Saisonalität aus? Wie viele Infektionen werden aus dem Urlaub mitgebracht? Das wird von den Experten natürlich kalkuliert, aber man kann es nicht genau bestimmen." Und regionale Beschränkungen oder Ausreisetests aus einzelnen Gemeinden will Kollaritsch nicht ausschließen.

Der Vorteil sei, dass man etwas mehr Zeit habe zu reagieren als im vergangenen Jahr: "Die knapp 60 Prozent Geimpften haben schon einen dämpfenden Effekt. Das sieht man auch in Großbritannien. Der Anstieg ist da, aber er verlangsamt sich nach einer Weile, ebenso wie die Hospitalisierungen. Da darf man hoffnungsfroh sein."

Auch Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS) sieht keine wirkliche Gefahr eines weiteren Lockdowns: "Man weiß, dass die Entwicklung der Infektionen von wenigen Maßnahmen abhängt.

Das ist die Impfquote – fünf Prozent mehr machen da einen riesigen Unterschied aus –, aber auch so simple Dinge wie Masketragen und Abstandhalten. Fängt man früh genug damit an, hat das einen sehr dämpfenden Einfluss auf die Entwicklung."

Dass der Herbst nicht ganz so heiß wird, dafür spricht auch die Aufdröselung der Infektionszahlen. Von den für Wien gemeldeten 4035 aktiven Fällen (Stand 23. 8.) sind 80 Prozent ungeimpft, acht Prozent einmal und zwölf Prozent doppelt geimpft, 70 Prozent der Erkrankten sind unter 40 Jahre alt.

Diese Entwicklung spiegelt sich auch bei den Hospitalisierungen wider: Von 82 Patienten auf den Normalstationen in Wien sind 18 doppelt geimpft, das Durchschnittsalter beträgt 58,5 Jahre. Von 18 Patienten auf der Intensivstation ist nur eine Person doppelt geimpft, diese ist außerdem immunsupprimiert, Durchschnittsalter 54,7 Jahre.

Das zeigt, dass die Impfung tatsächlich der Gamechanger ist, als der sie so oft bezeichnet wurde. In diesem Zusammenhang lohnt sich auch ein Blick nach Island, das zuletzt mit sehr hohen Fallzahlen von sich reden gemacht hat, trotz einer Impfquote von 80 Prozent.

Obwohl die Inzidenz dort zuletzt rund 390 betragen hat, gab es seit dem aktuellen Anstieg bisher keinen einzigen Todesfall – und das macht Hoffnung.

(Eja Kapeller, Pia Kruckenhauser, Jan Michael Marchart, 28.8.2021)