Der letzte US-Flieger verließ Afghanistan eine Minute vor Mitternacht.

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Kabul / Washington / New York – In Afghanistan beginnt eine neue Zeitrechnung: Mit dem Abzug der letzten US-Soldaten vom Flughafen Kabul haben die USA den Militäreinsatz nach fast 20 Jahren beendet. Damit endete auch die militärische Mission zur Evakuierung von US-Bürgern, Verbündeten und schutzbedürftigen Afghaninnen und Afghanen. US-Präsident Joe Biden, der am Dienstag eine Ansprache hält, und Außenminister Antony Blinken versprachen, man werde weiter alles daransetzen, zurückgebliebene US-Staatsangehörige und andere Schutzsuchende aus dem Land zu holen. Das solle nun aber mit diplomatischen statt mit militärischen Mitteln passieren.

DER STANDARD

Der letzte US-Militärflieger hob eine Minute vor Mitternacht vom Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul ab. Alle US-Truppen hätten das Land verlassen, verkündete General Kenneth McKenzie, der das US-Zentralkommando Centcom führt. Biden hatte diesen Dienstag als Stichtag für den Abzug der US-Truppen gesetzt. Er äußerte sich zunächst nur in einer schriftlichen Stellungnahme zu dem historischen Moment und kündigte für 19.30 Uhr MESZ eine Ansprache an die Nation an. Er verteidigte erneut seine umstrittene Entscheidung, alle US-Soldaten aus dem Land abzuziehen, und verwies unter anderem auf die Sicherheit der amerikanischen Truppen.

Letzter Soldat Chris Donahue

McKenzie betonte, es sei kein einziger US-Soldat mehr in Afghanistan. Der letzte, der das Land verließ, war Generalmajor Chris Donahue. Das US-Zentralkommando twitterte in der Nacht auf Dienstag ein Bild, das durch ein Nachtsichtgerät aufgenommen worden war. Auf ihm ist zu sehen, wie der Kommandant der 82. Luftlandedivision der US-Armee auf dem Internationalen Flughafen in Kabul am späten Montagabend ein Transportflugzeug besteigt. "Der letzte amerikanische Soldat verlässt Afghanistan", postete das US-Zentralkommando.

Eigenen Angaben zufolge hat das US-Militär vor dem Abzug zahlreiche Flugzeuge und gepanzerte Fahrzeuge funktionsunfähig gemacht. So soll das Militärgerät nicht in die Hände der Taliban oder anderer islamistischer Gruppen fallen. Auch das Raketenabwehrsystem C-RAM am Flughafen sei unbrauchbar gemacht worden, sagte General McKenzie. Bei den Fahrzeugen handle es sich um 27 Humvees und 70 gepanzerte MRAP-Fahrzeuge. Zudem seien 73 Flugzeuge "entmilitarisiert" worden.

100 bis 200 ausreisewillige US-Amerikaner noch in Afghanistan

McKenzie räumte ein, dass es nicht gelungen sei, alle Menschen auszufliegen, die man in Sicherheit habe bringen wollen. "Wir haben nicht alle rausgeholt, die wir rausholen wollten." Man habe bis zum letzten Moment die Möglichkeit gehabt, weitere US-Bürger zu evakuieren. Aber einige hätten es nicht zum Flughafen geschafft.

Blinken sagte, nach Einschätzung seines Ministeriums seien noch zwischen 100 und 200 Amerikaner in Afghanistan, die das Land verlassen wollten. Biden hatte allen ausreisewilligen US-Bürgern versprochen, sie aus Afghanistan herauszuholen. Blinken versicherte: "Wir wollen unsere unnachgiebigen Bemühungen fortsetzen, Amerikanern, Ausländern und Afghanen zu helfen, Afghanistan zu verlassen, wenn sie sich dafür entscheiden." Das sagte auch Biden zu.

Zehntausende wollen noch fliehen

Nach der Machtübernahme der Taliban Mitte August hatten die USA und ihre internationalen Partner begonnen, ihre Staatsangehörigen sowie afghanische Helfer und andere Schutzbedürftige, die unter der Taliban-Herrschaft um ihr Leben fürchten, außer Landes zu bringen. McKenzie sagte, seit dem Start der militärischen Evakuierungsmission vor gut zwei Wochen habe allein das US-Militär mehr als 79.000 Zivilisten aus Kabul ausgeflogen, darunter rund 6.000 Amerikaner. Die USA und ihre Verbündeten hätten gemeinsam mehr als 123.000 Menschen außer Landes gebracht. Biden sprach von der "größte Luftbrücke in der Geschichte der USA".

Deutschland hatte seinen Rettungseinsatz bereits am Donnerstag beendet, Frankreich, Spanien und Großbritannien folgten am Freitag und Samstag. Zahlreiche ausreisewillige Menschen konnten aber nicht ausgeflogen werden und bleiben in dem nun wieder von den Taliban beherrschten Land zurück.

Der britische Außenminister Dominic Raab sagte am Dienstag dem Sender Sky News, eine "niedrige dreistellige" Zahl von Briten halte sich noch in Afghanistan auf. "Die meisten davon sind schwierige Fälle, in denen die Anspruchsberechtigung nicht klar ist, weil sie keine Papiere haben", sagte Raab. Es sei eine große Herausforderung, die Menschen aus dem Land zu bringen, nachdem die letzten alliierte Truppen aus Afghanistan abgezogen wurden.

Die britische Regierung betonte auch nach der Machtübernahme der Taliban ihre Entschlossenheit, in Afghanistan gegen Terroristen zu kämpfen. Luftwaffenchef Mike Wigston sagte dem "Daily Telegraph", seine Truppen seien bereit, wenn nötig Ziele der Terrormiliz IS anzugreifen. Wie die Zeitung berichtete, wurden auch hunderte afghanische Elitesoldaten, die von den Briten ausgebildet wurden, nach Großbritannien ausgeflogen. Es gebe Überlegungen, sie in die britische Armee zu integrieren. Vorbild sind die Gurkha-Truppen aus Nepal, die seit rund 200 Jahren in der Army dienen.

US-Außenminister: Neue diplomatische Mission beginnt

Die USA und die westlichen Partner haben wiederholt betont, dass es auch nach dem Ende der Militärmission die Möglichkeit geben soll, Menschen in Sicherheit zu bringen. Wie genau das geschehen soll, ist unklar. Der Uno-Sicherheitsrat erhöhte am Montag den Druck auf die Taliban, die Menschenrechte zu wahren und Ausreisewillige ungehindert passieren zu lassen. In seltener Einigkeit verabschiedete das mächtigste UN-Gremium am Montag eine entsprechende Resolution. Die Entscheidung fiel mit 13 Ja-Stimmen, Russland und China enthielten sich. UN-Resolutionen sind völkerrechtlich bindend.

Blinken betonte: "Die Militärmission ist beendet. Ein neue diplomatische Mission hat begonnen." Diese wird jedoch aus der Ferne zu steuern sein. Denn mit dem Abzug der US-Truppen gaben die Amerikaner auch ihre diplomatische Präsenz in Afghanistan auf. Man habe die diplomatischen Aktivitäten in die katarische Hauptstadt Doha verlegt, so Blinken. Von dort aus wolle man konsularische Angelegenheiten regeln, aber auch humanitäre Hilfe verwalten und die Zusammenarbeiten mit den Verbündeten organisieren.

Eine Regierung unter Führung der Taliban müsse sich internationale Legitimität und Unterstützung verdienen, sagte Blinken. Sie müssten dafür ihre Zusagen zur Reisefreiheit einhalten, Grundrechte respektieren und eine inklusive Regierung bilden. Sie dürften außerdem Terroristen keine Zuflucht gewähren und keine Racheaktionen gegen ihre Kontrahenten ausüben. Am Dienstag betonten die Taliban über einen Sprecher, sie würden "gute diplomatische Beziehungen mit den USA" wollen. "Wir begrüßen gute diplomatische Beziehungen mit allen", sagte Taliban-Sprecher Sabihullah Mujahid bei einer Rede am Flughafen in Kabul.

Die Radikalislamisten haben immer wieder zugesichert, dass auch nach dem Abzug der US-Truppen Ausreisen für jene mit nötigen Reisedokumenten möglich sein würden, dann eben mit zivilen Flugzeugen. Die Ankündigungen stießen angesichts der Brutalität und Schikanen, die die Taliban gegenüber Ausreisewilligen in den vergangenen Tagen und Wochen an den Tag gelegt hatten, allerdings auf Skepsis.

Taliban jubeln über Abzug

Die Taliban reagierten auf den Abzug der Amerikaner mit Jubel. Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid schrieb auf Twitter, das Land habe jetzt die völlige Unabhängigkeit erreicht. Das hochrangige Taliban-Mitglied Anas Haqqani twitterte: "Wir schreiben wieder Geschichte. Die 20-jährige Besetzung Afghanistans durch die USA und die Nato endete heute Abend. Gott ist groß."

Biden hatte im April angekündigt, alle US-Soldaten spätestens bis 11. September bedingungslos aus Afghanistan abzuziehen. Dieses Datum markiert den 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001, die den US-geführten Militäreinsatz ausgelöst hatten. Nach Bidens Ansage kündigte auch die Nato an, den von ihr geführten internationalen Einsatz zu beenden. Im Juli zog Biden das Datum für den vollständigen Abzug schließlich auf den 31. August vor.

Vor dem Sondertreffen der EU-Innenminister am Dienstag rief Luxemburgs Außen- und Migrationsminister Jean Asselborn zum Widerstand gegen den EU-Vorsitz Slowenien und gegen Österreich auf. Sie alle lehnten eine "direkte menschliche Solidarität in diesem extrem dramatischen Moment mit dem gefolterten Volk in Afghanistan ab", erklärte der luxemburgische Sozialdemokrat. Laut Asselborn sollte die EU "40.000 bis 50.000 Resettlement-Plätze für afghanische Flüchtlinge" zur Verfügung stellen.

Kampfloser Einmarsch in Kabul

In den vergangenen Wochen hatten sich die Ereignisse in Afghanistan überschlagen: Nach Bidens Ankündigung gewann der Siegeszug der Taliban rasant an Tempo. Sie übernahmen eine Provinzhauptstadt nach der anderen – oft leisteten die afghanischen Sicherheitskräfte wenig oder keinen Widerstand. Am 15. August floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland, die Taliban marschierten kampflos in Kabul ein. Die US-Botschaft wurde geschlossen, die Diplomaten flohen an den Flughafen.

Von dort aus wickelten die US-Amerikaner und ihre Verbündeten zuletzt ihre atemlose Evakuierungsmission ab. Der Flughafen in Kabul blieb auch nach der Machtübernahme der Taliban unter Kontrolle der US-Truppen. Die USA flogen vorübergehend 5.000 zusätzliche Soldaten ein, um die Evakuierungen abzusichern. US-Kommandeure koordinierten sich dabei mit den Taliban. Bei einem Anschlag der Terrormiliz "Islamischer Staat" wurden am Donnerstag vor dem Flughafen dutzende Afghanen und 13 US-Soldaten getötet. Der IS und die Taliban sind miteinander verfeindet. Noch am Montag griff der IS erneut den Flughafen Kabul an. Nach Angaben der US-Regierung wurden fünf Raketen abgefeuert. Der in Afghanistan aktive Ableger des IS reklamierte den Angriff für sich. (APA, maa, 31.8.2021)