Wie Sonnenlicht beispielsweise vom Mond zurückgeworfen wird und wie sich diese Reflexion verändert, wird in der sogenannten Phasenkurve dargestellt, deren Berechnung ein schwieriges mathematisches Problem darstellt.
Foto: NASA/JPL/USGS

Aus der Astronomie sind Computerberechnungen heute nicht mehr wegzudenken. Dass Stift und Papier jedoch in diesem Forschungsfeld ausgedient hätten, ist ein Irrglaube, wie ein aktuelles Beispiel zeigt: Wie Sonnenlicht von einem Himmelskörper, etwa dem Mond oder einem Planeten, mit dem sich ändernden Blickwinkel von der Erde aus reflektiert wird, beschreibt die sogenannte Phasenkurve. Die Formen dieser Kurven liefern unter anderem Hinweise auf die Oberflächen und Atmosphären von Monden und Planten.

Daten schnell per Hand analysieren

Dem theoretischen Astrophysiker Kevin Heng von der Universität Bern ist es nun gelungen, eine Reihe neuer mathematischer Formeln zu entwickeln, um solche Phasenkurven sowie die Stärke der Reflexion zu berechnen – und zwar auf Papier, ohne die Hilfe eines Computers. Die vergleichsweise einfachen Berechnungsmethoden ermöglichen es, Daten in Sekundenschnelle zu analysieren. Heng präsentierte sie gemeinsam mit Kollegen nun im Fachjournal "Nature Astronomy".

Die Messung der Phasenkurven des Mondes und der Planeten des Sonnensystems ist ein alter Zweig der Astronomie, der mindestens ein Jahrhundert zurückreicht. In den letzten Jahrzehnten werden die Phasenkurven von Exoplaneten mit Weltraumteleskopen wie Hubble, Spitzer, TESS und CHEOPS gemessen. Diese Beobachtungen werden jeweils mit den theoretischen Vorhersagen abgeglichen. Für diesen Abgleich braucht man eine Möglichkeit, die Phasenkurven zu berechnen, was bedeutet, dass ein schwieriges mathematisches Problem gelöst werden muss.

Ältere Grundlagen

Lösungsansätze zur Berechnung von Phasenkurven gibt es bereits seit dem 18. Jahrhundert. Der älteste bekannte Lösungsansatz geht auf den Schweizer Mathematiker, Physiker und Astronomen Johann Heinrich Lambert zurück, der das sogenannte "Lambertsche Reflexionsgesetz" verfasste. Das Problem der Berechnung des von den Planeten reflektierten Lichts wurde auch vom amerikanischen Astronomen Henry Norris Russell in einer einflussreichen Arbeit von 1916 aufgeworfen.

Ein weiterer bekannter Ansatz aus dem Jahr 1981 stammt vom amerikanischen Mondforscher Bruce Hapke, der auf die klassische Arbeit des indisch-amerikanischen Nobelpreisträgers Subrahmanyan Chandrasekhar aus dem Jahr 1960 aufbaute. Der sowjetische Physiker Viktor Sobolev leistete in seinem einflussreichen Lehrbuch von 1975 ebenfalls wichtige Beiträge zur Untersuchung des reflektierten Lichts von Himmelskörpern.

Kevin Heng vom Center for Space and Habitability (CSH), Universität Bern, entwickelte neue mathematische Formeln, um Lichtreflexionen von Monden und Planeten zu berechnen.
Foto: Alessandro Della Bella

Allgemein anwendbare Formelfamilie

Inspiriert von der Arbeit dieser Wissenschafter hat Kevin Heng vom Center for Space and Habitability (CSH) der Universität Bern eine ganze Familie neuer mathematischer Formeln zur Berechnung von Phasenkurven entdeckt. "Ich hatte das Glück, dass bereits umfangreiche Arbeiten von diesen großen Wissenschaftern geleistet worden waren", sagte Heng. "Hapke hatte einen einfacheren Weg entdeckt, die klassische Lösung von Chandrasekhar aufzuschreiben, und Sobolev hatte erkannt, dass man das Problem in mindestens zwei mathematischen Koordinatensystemen untersuchen kann."

Auf das Problem aufmerksam wurde Heng ursprünglich durch eine Zusammenfassung von Sara Seager in ihrem Lehrbuch von 2010. Mit Hilfe dieser Erkenntnisse konnte Heng die mathematischen Formeln für die Stärke der Reflexion (auch Albedo genannt) und die Form der Phasenkurve niederschreiben, und zwar komplett auf Papier und ohne einen Computer zu benutzen. "Das Bahnbrechende an diesen Lösungen ist, dass sie für jedes Reflexionsgesetz gelten, also sehr allgemein anwendbar sind. Der entscheidende Moment kam für mich, als ich diese Stift-und-Papier-Berechnungen mit dem verglich, was andere Forschende mit Computerberechnungen erreicht hatten. Ich war verblüfft, wie gut sie übereinstimmten», meinte Heng.

Jupiters Wolken

"Aufregend finde ich nicht nur die Entdeckung einer neuen Theorie, sondern auch ihre großen Auswirkungen auf die Interpretation von Daten", sagt Heng. So hat zum Beispiel die Saturnsonde Cassini Anfang der 2000er Jahre auch Phasenkurven des Jupiters gemessen, aber eine tiefgreifende Analyse der Daten wurde bisher nicht durchgeführt – wahrscheinlich, weil die Berechnungen zu rechenintensiv waren.

Mit seinem neuen Lösungs-Set war Heng in der Lage, die Cassini-Phasenkurven zu analysieren und daraus zu schließen, dass die Atmosphäre des Jupiters mit Wolken gefüllt ist, die aus großen, unregelmäßigen Partikeln von verschiedenen Größen bestehen. Diese parallele Studie wurde in der Fachzeitschrift "Astrophysical Journal Letters" veröffentlicht, in Zusammenarbeit mit dem Cassini-Datenexperten und Planetenforscher Liming Li von der Universität Houston in Texas, USA.

Am 9. Dezember 2000 schoss Cassini von Jupiter diese aus 27 Einzelbildern bestehende Mosaikaufnahme während der größten Annäherung der Sonde (zehn Millionen Kilometer) an den Gasriesen.
Foto: NASA/JPL/Space Science Institute

Sekundenschnelle Analyse

"Die Möglichkeit, mathematische Lösungen für Phasenkurven von reflektiertem Licht auf Papier zu bringen, bedeutet, dass man damit Daten in Sekundenschnelle analysieren kann", so Heng. Die Formeln eröffnen also neue Wege der Dateninterpretation. Heng arbeitet zusammen mit Pierre Auclair-Desrotour (ehemals CSH, derzeit am Pariser Observatorium) an der weiteren Verallgemeinerung der Formeln. "Pierre Auclair-Desrotour ist ein talentierterer angewandter Mathematiker als ich, und wir werden in naher Zukunft weitere spannende Ergebnisse veröffentlichen", so Heng.

In der Studie in "Nature Astronomy" demonstrierten Heng und seine Koautoren eine neuartige Methode zur Analyse der Phasenkurve des Exoplaneten Kepler-7b vom Kepler-Weltraumteleskop. Brett Morris leitete den Teil der Datenanalyse für die Studie. Heng sagt: "Morris leitet die Datenanalyse für die CHEOPS-Mission in meiner Forschungsgruppe, und sein moderner Data-Science-Ansatz war entscheidend für die erfolgreiche Anwendung der Formeln auf reale Daten".

Entdeckung für die Lehrbücher

Derzeit arbeiten sie mit Forschern des amerikanischen Weltraumteleskops TESS zusammen, um die Phasenkurvendaten von TESS zu analysieren. Heng stellt sich vor, dass seine Formeln auch zu neuartigen Möglichkeiten der Analyse von Phasenkurvendaten des James Webb Weltraumteleskops JWST, dass 2021 seine Reise ins Weltall antreten soll, führen werden. "Was mich am meisten begeistert, ist, dass diese mathematischen Formeln noch lange nach meinem Tod gültig sein werden und wahrscheinlich ihren Weg in Standard-Lehrbücher finden werden", so Heng. (red, 31.8.2021)