Generationenabgleich unter werdenden Müttern: Milena Smit und Penélope Cruz in Pedro Almodóvars voltenreichem Drama "Madres paralelas".

Foto: Filmfestival Venedig

Für alle jungen Menschen, die Filme auf Computerschirmen, Tablets oder, ganz böse, auf Handys schauen, schlägt Venedig-Direktor Alberto Barbera einen Test vor: Sie sollen denselben Film einmal auf einem dieser Geräte schauen und dann im Kino. "Sie werden bemerken, dass sie einen völlig anderen Film gesehen haben."

Die Umwälzungen der Rezeptionspraxis durch die Vielzahl an Abspielflächen verfolgen auch das älteste Filmfestival der Welt wie ein Schatten. Dabei war es die Mostra in Venedig, so Barbera bei der Eröffnungspressekonferenz, die 2014 erstmals einen Netflix-Film ins Programm hievte – damals noch von fast allen unbemerkt. Dass mittlerweile auch Eigenproduktionen der Streamingplattform im Wettbewerb um den Goldenen Löwen konkurrieren, sei deshalb nur folgerichtig.

Festival als Anfang von Karrieren

Barbera ist davon überzeugt, dass die Distributionslandschaft in ein paar Jahren eine andere sein wird. "Es hat keinen Sinn, Streamer zu dämonisieren", Kinos und Online-Anbieter würden bald Hand in Hand operieren, die Verwertungsfenster wohl immer kleiner werden. In all den Punkten mag man ihm recht geben, nur in einem nicht: Dass sich die Rolle der Festivals aufs Beobachten dieser Entwicklung beschränke, wie er meinte, mutet dann doch erstaunlich passiv an.

Davon kann vermutlich auch der koreanische Jury-Vorsitzende Bong Joon-ho ein Lied singen, schließlich hat der Gewinn der Goldenen Palme von Cannes den Erfolg seines Films "Parasite" befeuert. Festivals lenken die Aufmerksamkeit – gerade auch in einem Markt, der mehr Filmangebote denn je bereithält. Und sie stehen oft am Anfang von Karrieren. Pedro Almodóvar hat schon 1982 einen Film in Venedig gezeigt, jetzt ist er mit "Madres paralelas" zurück am Lido.

Almodóvars Verve

Der spanische Regisseur setzt die Latte für das Festival gleich einmal sehr hoch. Demnächst wird er 72 Jahre alt, mit seinem neuen Film beweist er, dass er es gar nicht nötig hat, Anschluss an die Zeit zu finden. Er war ihr mit seinen Filmen, die oft Frauen, in einem umfassenden Sinn auch Queerness ins Zentrum rückten, ja eher voraus.

Wer will, kann sein Drama um zwei Frauen, die ungeplant schwanger werden und sich als alleinerziehende Mütter neu bestimmen, nun einen dezidiert feministischen Film nennen. Zugleich ist es ein typischer Almodóvar, der sich in keine identitätspolitische Schublade pressen lässt: zu lustvoll und ungeniert fächert er seine Themen von Mutterschaft, Herkunftssuche und Freiheitsdrang auf. Man könnte sagen: So wenig wie die Figuren hier vorbestimmt sind, ist es der Film.

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Die originellste Idee von "Madres paralelas" lautet, dass Selbstbestimmung und die Anbindung an Familiengeschichte gar keinen Widerspruch bilden. In einer Zeit, in der man Identitätskonzepte festzurrt, wirkt Almodóvars Sicht erfrischend großzügig und undogmatisch. In einer Rahmenhandlung des Films geht es sogar um politisch Verdrängtes in Spanien. Janis (Penélope Cruz) will das Grab ihres von Falangisten ermordeten Urgroßvaters ausheben lassen, unterstützt wird sie von einem Archäologen, der überraschend Vater ihres Kindes wird.

Generationenabgleich von Frauen

"Madres paralelas" erzählt in einer eleganten, immer wieder lustvoll vorwärtspreschenden Montage von Janis’ neuer Mutterrolle. Doch gerade als sie sich in eine überprotektive Helikoptermama zu entwickeln droht, schlägt der Film wieder einen Haken. Es wächst in ihr der Zweifel, ob es sich bei ihrem Baby überhaupt um das eigene handelt. Es sieht einfach zu "ethnisch" aus.

Janis’ Parallelmutter ist die junge Ana (Newcomerin Milena Smit), eine Millennial, die ihre eigenen Geheimnisse hat. Aus der wachsenden Annäherung der beiden erstellt der Film einen Generationenabgleich von Frauen, der noch um andere Figuren wie Anas divenhafte Schauspielerinnenmutter erweitert wird. Souverän changiert er so zwischen Beziehungskomödie, Thrillermomenten und emanzipatorischem Drama. "Madres paralelas" ist ein wunderbarer Patchworkfilm, und zwar formal wie inhaltlich. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 2.9.2021)