Fast zieht ein bisschen Wehmut bei dem Gedanken auf, dass sie als deutsche Bundeskanzlerin bald Geschichte sein wird. Angela Merkel konnte es nämlich: sich selbstkritisch über die Art des Abzugs aus Afghanistan äußern. Joe Biden fehlt hier jegliche Einsicht. Er will seinen Bürgern und der Welt weismachen, dass Manöver dieser Art nicht anders zu handhaben sind.

Joe Biden lehnt die Rolle der USA als Weltpolizist ab.
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In seiner ersten Rede nach dem abgeschlossenen Abzug der USA verteidigte er seine Entscheidung eisern und ohne auch nur einen Anflug von Selbstzweifel. Mitunter wirkte der Präsident, der als Einiger und Empath angetreten war, als wäre ihm das moralische Desaster, das die USA mit ihrem übereilten und unprofessionellen Vorgehen ausgelöst hatten, egal.

Das ist unsympathisch, enttäuschend und passt nicht zum Bild, das Europa sich von Joe Biden gemacht hat. "America first", ist man versucht boshaft zu knirschen. Aber der US-Präsident lehnt die Rolle der USA als Weltpolizist nicht erst seit gestern ab. Er glaubte nie an das Konzept der Nationenbildung, dessen Ende er nun ganz offen ausrief.

Ohne die Last des "ewigen Krieges in Afghanistan" wird sich Biden nun darauf konzentrieren, eine globale Handelsordnung zu bauen, um die Dominanz Chinas einzuhegen. Hat er in dieser Hinsicht Erfolg, würde er vorantreiben, was Obama versuchte und worauf auch Trump drängte. Trotzdem hätte er wenigstens den Anflug von Bedauern erkennen lassen können. So sehen Biden und die USA moralisch echt alt aus. (Manuela Honsig-Erlenburg, 1.9.2021)