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Dass hinter jeder Ecke ein Sheriff lauern kann, erleben in der Öffentlichkeit bekannte Personen immer wieder.

Foto: Getty Images/kokouu

Was haben ein Biss in einen Burger bei McDonald’s, ein Augenblick ohne Maske beim Zugfahren, ein Sechserträger Mineralwasser in Plastikflaschen, ein Getränk im luxuriösen Strandclub und eine auf die Straße geworfene Tschick gemeinsam? All diese Momente haben für größere oder kleinere Skandale, jedenfalls für Schlagzeilen gesorgt. Denn wenn es der grüne Vizekanzler ist, der Burger isst, die SPÖ-Chefin, die im Luxusclub weilt, wenn eine Grüne Plastikflaschen kauft und der Gesundheitsminister Müll liegen lässt, dann erhitzt das die Gemüter. Das merkt man nicht nur an den Reaktionen auf die Berichte, sondern daran, dass diese auf den ersten Blick banalen Dinge, diese vermeintlichen oder tatsächlichen Fehltritte überhaupt festgehalten und die Betroffenen angeschwärzt und an den Pranger gestellt werden. Dieses Vernadern betrifft aber nicht nur Prominente – vor allem seit Ausbruch der Pandemie greift es besonders um sich.

Häme spielt wichtige Rolle

Ein Phänomen, mit dem sich der Soziologe Rafael Behr beschäftigt, der als Deutscher den Begriff "Denunziation" statt der österreichischen "Vernaderung" verwendet. "Es gibt immer mehr Fälle, bei denen wir bemerken, dass nicht zur Lösung eines Problems etwas bei der Polizei gemeldet wird, sondern bei denen es um Denunziation geht", sagt Behr, der als Professor für Polizeiwissenschaften an der Akademie der Polizei Hamburg Kriminologie und Soziologie lehrt. Ein wichtiges Element des Denunzierens sei die Häme. "Nach dem Motto: ,Ihr wolltet euch über uns stellen, jetzt seid ihr aber ganz klein. Ihr habt euch vom Guten zum Schlechten gewandelt.‘"

"Allergisch auf Doppelmoral"

Das Stichwort Doppelmoral nennt auch Autorin Ingrid Brodnig, die sich mit Hass und Verschwörungstheorien im Netz beschäftigt. Dieser Aspekt spielt auch bei den genannten Beispielen eine Rolle – sie betreffen allesamt Menschen, die qua ihrer Parteimitgliedschaft für viele als "linke Gutmenschen" gelten würden, weil die Parteien stark mit Werten wie Ökologie, Gerechtigkeit oder Nachhaltigkeit verbunden werden. "Wenn ein Rechtspopulist SUV fährt und keine Maske trägt, dann wird der Vorwurf ausbleiben, weil hier keine gefühlte Doppelmoral vorliegt. Menschen reagieren allergisch auf Doppelmoral." Es sei nachvollziehbar, wenn eingefordert wird, dass Mitglieder die Werte ihrer Partei hochhalten. "Aber es kann sehr schnell unfair werden, wenn es unrealistische Erwartungen gibt."

Dass die Ansprüche an das Verhalten von Menschen höher sind, wenn diese sich beruflich oder in der Freizeit für Werte wie Nachhaltigkeit einsetzen, für veganes bzw. gesundes Leben plädieren oder versuchen, auf Plastik zu verzichten, spüren längst nicht nur Politikerinnen und Politiker. Es trifft zahlreiche in der Öffentlichkeit stehende Menschen, zum Beispiel Influencerinnen, Aktivisten, Wissenschafterinnen oder NGO-Vertreter. Seit Ausbruch der Pandemie verfolgt so mancher aber auch sehr penibel die Einhaltung der Corona-Regeln durch Normalbürger.

Lockerungen brachten Unsicherheit

Der Grund: Unsicherheit sei ein Quell der Denunziation, sagt Behr. Daher greife das Phänomen in Krisen stärker um sich. Am meisten Unsicherheit sei zu Corona-Zeiten aufgekommen, als die Lockdown-Regeln wieder gelockert wurden. Bei Unsicherheit entstünden "Verhaltensunsicherheiten, die zu vermehrter Denunziation führen". Die Stärke des Staates spiele auch eine Rolle, sagt Behr. Werde der Staat als stark wahrgenommen, gebe es "ein Heer an Denunzianten". Wenn er schwach ist, lohne es sich nicht, etwas zu verraten. "Wenn man den Zusammenhang zwischen einem starken Staat und Denunziation weiterdenkt, endet das im totalitären Staat", spinnt Behr die Gedanken weiter.

Dass hinter jeder Ecke ein Sheriff lauern kann, erlebte Mitte August der grüne Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein, als ein Aktivist einen von ihm mutmaßlich auf die Straße geworfenen Zigarettenstummel dokumentierte. Der Minister zeigte sich reuig und kündigte an, die in solchen Fällen übliche Strafe zu spenden. In diesem Fall hätte eine Verwaltungsstrafe fällig werden können – oft überführen Vernaderer aber auch Menschen eines vermeintlich falschen Verhaltens, obwohl gar kein Gesetz übertreten haben.

Niemand gibt es zu

Wie viel Denunziation oder Vernaderung stattfindet, lässt sich daher nur schwer in Zahlen fassen. Eher dazu neigen würden aber Menschen mit wenig Sozialprestige und geringem Selbstwertgefühl. "Keiner will sagen, ich bin ein Denunziant. Aber es tun viele", sagt Behr. Nicht immer aus Bösartigkeit. Es gebe etwa auch den Anrainer, der unter dem lauten Nachbarn leidet, sich aber nicht traut, ihm das zu sagen, und der deshalb die Polizei ruft. Wer denunziere, könne sich auch "hinter anderen Dingen verstecken", zum Beispiel angeben, aus sozialer Verantwortung so handeln zu müssen.

Ein passendes Beispiel: Als die Umweltaktivistin Greta Thunberg mit dem Segelschiff in die USA reiste, wurde ihr das vorgeworfen, weil Medienvertreterinnen ihr folgten – allerdings in Flugzeugen. In vielen dieser Berichte wurde deswegen vordergründig Sorge wegen des ökologischen Fußabdrucks dieser Aktion geäußert. Dass Thunberg vielen Anfeindungen ausgesetzt ist, überrascht nicht: "Je weiter der moralische Kompass von einem selbst entfernt ist, desto größer ist der Impuls, den anderen zu verraten", erklärt Behr. Generell treffe es "hochmoralische Menschen" mehr: "Da spielt wieder die Häme eine Rolle."

Wut mobilisiert Wähler

Dem stimmt auch Brodnig zu. "Der Gutmensch-Politiker" sei online im rechten Spektrum eines der beliebtesten Feindbilder. Zwar blieben die Aufregung und die Häme über die vermeintlichen Fehltritte, die Doppelmoral auch innerhalb dieses Lagers und hätten auf die Wählerinnen und Wähler der attackierten Partei wenig Effekt. Relevant sei das aber trotzdem: "Denn Feinbilder zu schaffen, Wut aufzubauen ist ein erfolgreiches Mittel in der politischen Mobilisierung. Wütende Wählerinnen und Wähler gehen eher wählen." (Lara Hagen, Gudrun Springer, 2.9.2021)