An einigen Standorten der Sommerschule wurde das Testkonzept für den Herbst ausprobiert. Der Initiator der Gurgelstudie, Michael Wagner, hält es in manchen Punkten für fortschrittlich, gleichzeitig gehe man damit aber auch einen Schritt zurück.

Foto: APA/HERBERT PFARRHOFER

Die Inzidenz ist unter Kindern und Jugendlichen zuletzt rasant gestiegen. Trotzdem soll es keine Schulschließungen mehr geben – das hat Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) erst kürzlich verkündet. Sorgen soll dafür ein Sicherheitskonzept (siehe Infokasten unten). Der Mikrobiologe Michael Wagner hält es aber für nicht ausreichend.

STANDARD: Herr Wagner, schicken Sie Ihre beiden Töchter, sieben und neun Jahre alt, kommenden Montag guten Gewissens in die Schule?

Wagner: Sie gehen in die Schule. Zuversichtlich wäre ich, wenn dort, wie vom Future-Operations-Board vorgeschlagen, verpflichtend dreimal wöchentlich PCR-getestet werden würde. Das wäre die wirkungsvollste Maßnahme gewesen, um vor den Impfungen einen dauerhaften Schulbetrieb ohne hohes Infektionsrisiko zu ermöglichen.

STANDARD: Erst kürzlich haben Sie in einer Studie die Teststrategie des Bildungsministeriums im Sommersemester evaluiert – damals wurden Schülerinnen und Schüler dreimal wöchentlich mit Antigentests getestet. Was ist dabei herausgekommen?

Wagner: Natürlich war es ein fortschrittliches Programm, das auch wirklich etwas bewirkt hat. Antigentests werden aber nicht reichen, um die Delta-Welle zu brechen: weil man viele Infizierte und auch Infektiöse übersieht, und jene, die man findet, erst findet, wenn sie schon ansteckend sind. So konnten wir zum Beispiel zeigen, dass in Volksschulen mehr als 70 Prozent der infizierten Kinder mit den Antigentests übersehen wurden. Insgesamt wiesen etwas weniger als die Hälfte der mit den Antigentests falsch-negativ getesteten Personen eine Viruslast auf, die so hoch war, dass diese als potenziell infektiös eingestuft werden müssen. In der Praxis bedeutet das: Auch wenn man Infizierte nach einem positiven Test gleich nach Hause schickt, können sie bereits viele andere Kinder angesteckt haben. Wenn sie in der Schule getestet werden, waren sie ja schon auf dem Schulweg, im Bus und haben dort andere Kinder getroffen. Regelmäßige PCR-Tests können das zum Großteil verhindern, weil sie Infizierte finden, bevor diese bereits ansteckend sind.

Mit Antigentests werde man die Delta-Welle nicht brechen können, sagt Michael Wagner.

Er ist Mikrobiologe an der Uni Wien und Studieninitiator der "Gurgelstudie", bei der Schülerinnen und Schüler an ausgewählten Schulen regelmäßig PCR-getestet wurden.
Foto: privat

STANDARD: Trotzdem kommen dieses Semester hauptsächlich Antigentests zum Einsatz. Verstehen Sie diese Entscheidung?

Wagner: Es ist eine politische Entscheidung. Wir haben bereits im Frühsommer darauf hingewiesen, dass regelmäßiges PCR-Testen mit Abstand am besten wäre. Die Daten, auf denen dieser Vorschlag aufbaut, waren zu diesem Zeitpunkt bereits da. Über den Sommer hat man die notwendige Infrastruktur aber nicht überall aufgebaut. Es wird abgelegene Schulen auf dem Land geben, wo das logistisch vielleicht schwierig zu implementieren gewesen wäre. Ich denke aber, dass man mit einer Vorlaufzeit die überwiegende Mehrzahl der Schulen mit regelmäßigen PCR-Tests hätte schützen können. Nun gibt es zumindest einen PCR-Test wöchentlich. Das ist ein großer Fortschritt. Gleichzeitig geht das Konzept aber auch einen Schritt zurück.

STANDARD: In welcher Hinsicht?

Wagner: Das verpflichtende Testen aus dem Sommersemester ist gefallen. Nun wird erst verpflichtend getestet, wenn die risikoadjustierte Inzidenz der Gesamtbevölkerung über 100 liegt. Damit legt man das Hauptaugenmerk aber eigentlich auf den Schutz der Erwachsenen und nicht auf den der Kinder und Jugendlichen. Unter anderem aufgrund der unterschiedlichen Impfquote in den Altersgruppen kann gerade einige Wochen nach dem Schulstart die risikoadjustierte Inzidenz der Gesamtbevölkerung aller Voraussicht nach deutlich niedriger sein als die Inzidenzen bei Kindern und Jugendlichen. Das führt dazu, dass man bei einem hohen Infektionsgeschehen bei Kindern und Jugendlichen keine ausreichenden Maßnahmen setzt, solange Erwachsene nicht häufig infiziert sind.

STANDARD: Mit einem Frühwarnsystem aus Abwassermonitoring und Wächterschulen sollen auch frühzeitig Trends und Clusterbildungen im Schulbereich gefunden werden, um regional darauf reagieren zu können. Reicht das nicht aus?

Wagner: Das Frühwarnsystem ist gut, vor allem auch das Konzept der Wächterschulen, da dort jetzt offensichtlich alle Kinder der ausgewählten Schulen getestet werden sollen. Auch in unserer Gurgelstudie im vergangenen Jahr wollten wir ursprünglich bei Auftreten positiver Fälle alle Kinder einer Schule mittels PCR testen – auch um untersuchen zu können, wie sich Infektionen in den Schulen ausbreiten. Damals hieß es jedoch, dass dies nicht realisierbar wäre. Es ist sehr erfreulich, dass sich dies nun geändert hat. Ich frage mich aber, wie die Ergebnisse, die man daraus erzielt, zu Maßnahmen führen werden. Denn es ist mir noch nicht klar, wie die unterschiedlichen Datenpools – also die risikoadjustierte Inzidenz, die Wächterschulen und das Abwassermonitoring – miteinander verschränkt werden. Grundsätzlich hätte ich die verpflichtenden Testungen – wenn man sie aus Kostengründen schon an einen Wert koppeln will – aber eher an die Ergebnisse der Erhebungen an den Wächterschulen gekoppelt und nicht an die risikoadjustierte Inzidenz. Das ist eigentlich kurios. Man hätte Daten, die das Infektionsgeschehen in der betroffenen Altersgruppe gut widerspiegeln, nur haben sie keine direkte Konsequenz. Das erinnert mich ein wenig an vergangenes Jahr: In der Gurgelstudie wurde gezeigt, dass es an sogenannten Brennpunktschulen viele Infizierte gab, aber es ist über den Verlauf des Schuljahrs leider nicht gelungen, diese Schulen spezifisch besser zu schützen.

STANDARD: Warum ist das so?

Wagner: Fest steht: Kinder haben keine gute Lobby. Und die Erkrankung verläuft bei ihnen zum Glück fast nie tödlich. Es gibt keine Bilder von vollen Krematorien oder Militärlastern. Kinder leiden in der Pandemie eher still.

STANDARD: Unter geschlossenen Schulen würden Kinder und Jugendliche mehr leiden als unter dem Virus – das sagen unter anderem auch viele Kinderärztinnen und Kinderärzte.

Wagner: Das Problem ist, dass in dieser Debatte oft ein Dualismus bedient wird: Entweder Schulen schließen oder durchseuchen lassen. Das ist aber überhaupt nicht richtig. Durch das Fehlen von adäquaten Präventionsmaßnahmen erzeugen wir erst die Gefahr von Schulschließungen. Natürlich müssen wir die Schulen offen halten, weil sie für die Kinder so wichtig sind. Genau um das zu ermöglichen, sollten wir regelmäßig testen. Ansonst sitzen in kürzester Zeit viele Kinder infiziert oder in Quarantäne zu Hause – auch in diesem Fall wären sie dann ohne Bildung und Sozialkontakte. Darüber hinaus haben wir es mit einer Krankheit zu tun, die in seltenen Fällen bei Kindern MIS-C (Multisystem Inflammatory Syndrome in Children) auslöst und auch bei Kindern im einstelligen Prozentbereich der Infizierten zu Spätfolgen (Long Covid) führen kann.

STANDARD: Die gleichen Daten lassen einige Expertinnen und Experten aber auch zu einem anderen Schluss komm: nämlich dass Sars-CoV-2 für Kinder nicht gefährlich ist. Maßnahmen wie das Tragen von Masken oder Tests seien deshalb überzogen.

Wagner: Das sehe ich anders. In den USA und der Schweiz müssen ein bis zwei Prozent der nachweislich infizierten Kinder ins Krankenhaus, eines von 3.000 bis 5.000 infizierten Kindern entwickelt das gefährliche MIS-C. In Hinblick auf Long Covid gehen Studien mit Vergleichsgruppen davon aus, dass ein bis fünf Prozent betroffen sind. Tatsächlich wird der Anteil etwas geringer sein, weil es eine Dunkelziffer an Infizierten gibt. Es gibt Kinderärzte, die sagen, dass es nach einer Infektion mit Sars-CoV-2 zu einer verstärkten Selbstbeobachtung kommt; dass Eltern nach einer Infektion genauer hinschauen, ob es zu Spätfolgen bei den Kindern kommt, als sie das zum Beispiel nach einer Erkältung tun würden. In dieser Hinsicht gehe ich mit: Es ist noch nicht möglich, genau zu beziffern, wie häufig Long Covid bei Kindern ist. Aber: Dass es Long Covid bei Kindern gibt, ist klar. Und dass es das nicht äußerst selten gibt, scheint ebenso klar. Schon allein aus dem Vorsichtsprinzip heraus sollte man also nicht eine Million Kinder durchinfizieren und sagen: Wird schon gutgehen! Noch dazu, wenn die Impfung auch für unter Zwölfjährige in absehbarer Zeit verfügbar sein wird. Wir sollten daher auf diesen letzten Metern vor der Impfung für Kinder alles dafür unternehmen, Infektionen unter Kindern zu verhindern.

STANDARD: Die Rolle von Kindern in der Pandemie wird immer noch kontrovers diskutiert. Die WHO warnte davor, die Schulen erneut zu schließen, auch weil Schulen keine Treiber bei der Übertragung seien. Ihre Gurgelstudie kam jedoch zum Schluss, dass Schülerinnen und Schüler gleich häufig infiziert sind wie Lehrerinnen und Lehrer sowie die Gesamtbevölkerung. Welche Rolle spielen Kinder und Schulen im Infektionsgeschehen?

Wagner: Ein Hauptproblem war: Kinder hatten gerade bei Ursprungsvarianten oft oder nur sehr milde Symptome und wurden deshalb auch nicht getestet. In Österreich war es lange sogar so, dass Kinder unter zehn Jahren, auch wenn sie symptomatisch waren, nicht getestet wurden, wenn es eine plausible Alternativdiagnose gab. Es wurde ein Testregime aufgebaut, das Kinder systematisch untertestet hat. Dass es nur wenige infizierte Kinder gab, war also eine selbsterfüllende Prophezeiung. Überall dort aber, wo man anlassunbezogen getestet hat, zeigte sich schon sehr früh, dass Kinder ähnlich häufig infiziert sind wie Erwachsene. Die Tatsache, dass infizierte Kinder häufig asymptomatisch sind, kann auch dazu führen, dass sie in Familien und auch in Schulen als Indexfälle übersehen werden. Ein infiziertes Kind ohne Symptome steckt seinen Lehrer an, dieser entwickelt Symptome, wird positiv getestet und als Indexfall bewertet. Bis das Kind über das Contact-Tracing getestet wird, kann es sogar bereits wieder PCR-negativ sein – und dann heißt es, es hätte sich nicht einmal angesteckt. Ebenso weiß man aus Viruslast- und Haushaltstudien, dass infizierte Kinder ähnliche Virenmengen im Rachen tragen wie Erwachsene und selbstverständlich auch ansteckend sind.

Viele Metastudien haben gezeigt, dass Schulschließungen eine sehr wirkungsvolle Maßnahme zur Dämpfung des Infektionsgeschehens waren. Das Wort Treiber finde ich in diesem Zusammenhang aber unpassend. Schulen haben wie vieles andere eine Rolle im Infektionsgeschehen gespielt, aber aufgrund der hohen Zahl der Schülerinnen und Schüler darf man diese auch nicht unterschätzen. Durch die Tatsache, dass Kinder unter zwölf Jahren noch nicht geimpft werden können, ist aber zu erwarten, dass die Rolle der Kindergärten und Volksschulen für die Virusverbreitung zunehmen wird. (Eja Kapeller, 2.9.2021)