Noch verbirgt sich hinter dem martialischen Auftreten der Taliban ein Fragezeichen: Wie moderat sind die Islamisten?

Foto: EPA/STRINGER

Die Hoffnung auf ein tolerantes Miteinander in Afghanistan speist sich dieser Tage aus trüben Quellen. Es zirkulieren kuriose TV-Bilder: Sie zeigen einen verängstigten Moderator, der sich am Newsdesk festhält. Währenddessen stärkt ihm ein Trupp von bis an die Zähne bewaffneten Taliban mit versteinerten Mienen den Rücken. Zur selben Zeit – am Airport wird gerade der Schutt der Amerikaner weggekehrt – senden unabhängige Kanäle wie Tolo News am laufenden Band Bilder der Zuversicht.

Kurios? Tolo-News-Inhaber Saad Mosheni besitzt einen australischen Pass. Der gelernte Investmentbanker musste auf Geheiß der Taliban seine Lokalbüros schließen. Fragt man ihn nach der Zukunft seines Senders, mimt der Mogul einen Esser, der soeben mit Behagen eine Kröte verschluckt hat. Man werde sich mit den neuen Machthabern in Kabul schon irgendwie arrangieren.

Vor gar nicht so vielen Jahren konnte man in Kabul eine Vielzahl von Initiativen bewundern. Die heute in Hamburg lebende Künstlerin Moshtari Hilal erzählt von einem Rockfestival, das 2012 veranstaltet wurde: "Es war die bereits zweite Ausgabe." Die Menschen hätten sich derart sicher gefühlt, dass sie überall Plakate affichieren konnten. Hilal selbst wuchs in Deutschland auf. Sie beschreibt ihren Aktivismus als Ausdruck der afghanischen Diaspora, widergespiegelt in der Organisation Afghan Visual Arts & History (AVAH).

Moshtari Hilal, Künstlerin in afghanischer Diaspora.
Foto: Simon Burks

Vor neun Jahren warben Musikerinnen in TV-Shows für ihre Gigs. Glückliche Besitzer einer Karte wurden kurz vor Konzertbeginn per SMS über Uhrzeit und Location in Kenntnis gesetzt: "Natürlich herrschte schon damals Angst vor Anschlägen der Taliban."

Street-Art im Innenhof

Parallel dazu malte Hilal ihre Kunst in Innenhöfen. Heute, gut verankert im Kulturbetrieb, verkehrt sie mit den nicht evakuierten Freunden via Social Media. Sie sagt: "Es gibt keinen Grund, den Taliban irgendeinen Vertrauensvorschuss einzuräumen. Sie haben hinlänglich gezeigt, dass sie blutig und puristisch vorgehen. Sie wenden sich strikt gegen ethnische und religiöse Diversität, und sie verbieten rigoros Musik und Bilder."

Die Zahl verstörender Übergriffe auf Kulturschaffende und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft nimmt zu. In der Provinz Baglan wurde erst kürzlich ein prominenter Volksmusiker ermordet. Dasselbe Schicksal soll einem Komiker widerfahren sein.

Hilal erzählt von Künstlerinnen in Kabul, die sich gezwungen sehen, Tabula rasa zu machen. Sie zerstören die eigenen Studios und Ateliers, um den Gotteskriegern nur ja keine Handhabe zu geben, gegen sie vorzugehen. Fazit: "Sie machen sich eigenständig unsichtbar."

Ungewissheit lässt Hoffnung sprießen

Die Gesellschaft ducke sich auch deshalb weg, weil die jetzige, fluide Situation eine Interimsphase darstellt. Die Ungewissheit über die tatsächliche Ausrichtung der Taliban lässt Hoffnungen sprießen. Dabei nimmt die Besorgnis unablässig zu.

Ronja von Wurmb-Seibel, Autorin und Filmerin.
Foto: Niklas Schenck

Autorin Ronja von Wurmb-Seibel hat nicht nur Filme über Flüchtlinge aus Mittelasien gedreht. Die gelernte Journalistin verbrachte Monate in Kabul. Sie telefoniert täglich mit Freunden und erzählt vom Wahrwerden schlimmster Befürchtungen: "Sie gehen von Haus zu Haus, zerren die Menschen heraus und bringen manche gezielt um."

Ähnlich niederschmetternd die Aussichten für Frauen. Bis jetzt seien die Taliban, trotz ermutigender Signale, "nicht über ihren Schatten gesprungen". Wurmb-Seibels deutscher Landsmann Thomas Ruttig analysiert als Experte, der seit 30 Jahren zwischen Kabul und Berlin pendelt, sehr eingehend die Signale der neuen Machthaber: "Ich glaube, die Führung der Taliban ist bisher konzilianter aufgetreten, weil sie weiß, dass sie auf Dauer nicht gegen alle regieren kann." Die ersten Sätze der Gotteskrieger hätten demgemäß gelautet: "Auch die Frauen sollen in der Berufssphäre einen angemessenen Platz einnehmen." Zugleich werden Letztere sukzessive von der Öffentlichkeit ferngehalten. Ruttig: "Bisher wurden die Kinder vor Erreichen der Matura in den Schulen segregiert." Ab nun gelte die Trennung auch für alle Hochschulen. "Irgendwann wird es in einer solchen Gesellschaft überhaupt keine Ärztinnen oder Akademikerinnen mehr geben."

Foto: Ruttig

Zu glauben, die Taliban hätten eine zivilgesellschaftliche Attitüde entwickelt, sei fahrlässig. Hilal warnt: "Die Führung der Taliban hat seit Jahren in Doha die Fächer Regierungspolitik und Propaganda studiert." Ruttig assistiert: "Sie haben vom Westen allerhand gelernt: Wie man auf der einen Seite kämpft, während man andererseits nicht minder emsig verhandelt." Die Zivilgesellschaft in Afghanistan steht vor dem Nichts.

Wurmb-Seibels Resümee: "Der Westen hat sich entschieden, nicht zu helfen." In Deutschland seien noch Anfang August Menschen aktiv nach Afghanistan abgeschoben worden. "Wir werden jetzt Menschen in Massen sterben sehen, auch wegen der bevorstehenden humanitären Situation. Es herrschen im Land Dürre und Covid." (Ronald Pohl, 3.9.2021)