Am Donnerstag startete in Wien eine Impfaktion im Kaufhaus Gerngross – mit wenig Andrang. Das Prognose-Konsortium weist darauf hin, dass jeder Prozentpunkt mehr Geimpfte große Effekte erziele.

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Wien – Die Prognosen für den Herbst wurden unterboten: Deutlich weniger Österreicherinnen und Österreicher gehen derzeit zur Erstimpfung gegen Covid, als im Sommer von Experten angenommen worden ist. Daher hat das Covid-Prognose-Konsortium, das die Regierung berät, Langfristszenarien erstellt, die den aktuellen Impfverlauf berücksichtigen. Die am Donnerstag veröffentlichten Annahmen zeigen sehr deutlich: Nur wenige Prozentpunkte Unterschied bei der Impfrate lassen die Kurven der daraus resultierenden Infektionen und Hospitalisierungen deutlich abflachen. Zur Erinnerung: In Österreich sind derzeit rund 58,4 Prozent vollständig immunisiert. In dem Papier heißt es, dass "die Impfgeschwindigkeit im Zuge des Sommers 2021 rapide gesunken ist und deutlich unter dem angenommenen Worst-Case-Szenario" zu liegen gekommen sei.

Simulationsforscher Nikolas Popper, der auch Mitglied des Prognose-Konsortiums ist, sagt im STANDARD-Gespräch: "Es müssten noch eine Million Menschen zeitnah geimpft werden, um einen guten Effekt zu erzielen." Andernfalls werde es deutlich schärfere Maßnahmen brauchen – oder es drohe eine Überlastung der Spitalskapazitäten.

Mehr Maßnahmen nötig

Das Papier gibt denn auch an, dass "im Vergleich zum aktuellen Maßnahmenregime" mehr Schutzmaßnahmen notwendig sein werden, "um eine Überlastung der Intensivstationen (33-Prozent-Belagsgrenze) zu verhindern". Über weitere Maßnahmen für den Herbst wird aktuell ja innerhalb der Bundesregierung beraten.

Bei derzeitigen Durchimpfungszahlen würden wenige Prozentpunkte mehr einen großen Unterschied machen, erklärt Popper von der TU Wien, die an dem Konsortium ebenso beteiligt ist wie auch Vertreter der Medizinischen Universität Wien/Complexity Science Hub Vienna (CSH) und der Gesundheit Österreich GmbH. Die ersten zehn bis 15 Prozent Geimpfte brächten de facto noch keinen Effekt", sagt Popper, aber ab 50 Prozent und unter 90 Prozent Durchimpfungsrate sei "die Maßnahme des Impfens mit jedem Prozentpunkt enorm effektiv".

Bereits wenige Prozentpunkte mehr in der Durchimpfungsrate könnten "zu einem deutlich früheren Abflachen der vierten Welle führen", heißt es auch in dem Papier der Prognose-Experten. Der Schutz vor Infektionen wird für Teilimmunisierte mit 30 Prozent und für Vollimmunisierte mit 80 Prozent angenommen. Vor einer Hospitalisierung aufgrund einer Covid-Erkrankung liege er deutlich höher.

Schulbeginn und Reiserückkehr

Weiters steht darin, dass das Infektionsgeschehen im Herbst "von mehreren Faktoren maßgeblich beeinflusst" werde: Reiserückkehrern bzw. dem Ende der Sommerferien und der damit verbundenen Rückkehr an den Arbeitsplatz sowie die Schule. Man geht davon aus, dass "all diese Faktoren das Infektionsgeschehen gleichermaßen in einem Ausmaß verändern, wie dies auch im Herbst 2020 der Fall war" – zusätzlich unter der Berücksichtigung der höheren Transmissibilität der Delta-Variante sowie des Impffortschrittes. Der Impfplafond (also welche Rate erreicht wird) wird diesmal mit 62 oder mit 70 Prozent angenommen. Weiters zeigen die Prognosen, wie treibende oder dämpfenden Faktoren die Entwicklung mitbeeinflussen können.

Limit bei 5.000 Neuinfektionen

Bleiben die Maßnahmen, wie sie aktuell sind (inklusive bereits Wiedereinführung von mehr Maskenpflicht indoor, wovon das Konsortium offenbar ausgeht), geht man bei einem Impfplafond von 62 Prozent von einem Höhepunkt der Infektionszahlen in etwa im Laufe des Oktobers bis Novembers aus. In dem Szenario ist auch mit einer Überlastung der Spitalskapazitäten zu rechnen. Da wäre bei rund 5.000 Neuinfektionen am Tag über eine gewisse Zeit gegeben. Die Zehn-Prozent-Hürde wäre schon mit täglichen 1.500 Neuinfektionen überschritten. Dann müssen planbare OPs verschoben werden, worauf man sich derzeit in Österreich schon teilweise vorbereitet.

Große Schwankungsbreite

Hier sei zu erwähnen, dass Popper schon derzeit von deutlich höheren Infektionszahlen als den aktuell täglich publizierten ausgeht (in etwa 4.000 bis 5.000 am Tag), da es eine gewisse Dunkelziffer gebe. Zusätzlich sei erwähnt, dass die einzelnen Szenarien laut Papier "einer großen statistischen Schwankungsbreite unterliegen". Im Basisszenario bei einem Impfplafond von 62 Prozent sei zum Beispiel sowohl ein deutliches Unter- wie Überschreiten der 33-Prozent-Auslastungsgrenze der Spitäler mit einer Wahrscheinlichkeit von ein zu sechs möglich. Ein wichtiger Faktor ist dabei etwa, wie alt die Infizierten sind.

Flache Kurven

Bei höherem Impfschutz und mehr Maßnahmen zur Eindämmung des Virus – genannt wird etwa die Schließung der Nachtgastronomie oder eine nächtliche Ausgangssperre – flachen die Kurven, die sich aus den Infektions- und Hospitalisierungszahlen ergeben, deutlich ab.

Im Best-Case-Szenario (Impfplafond bei 70 Prozent Vollimmunisierung der Gesamtbevölkerung und Maßnahmen, die die Reproduktionszahl, also wie viele Menschen eine infizierte Person im Mittel ansteckt, um 20 Prozent verringern) "ist eine systemgefährdende Epidemiewelle bis Dezember nahezu auszuschließen". (Gudrun Springer, 2.9.2021)