Gunda lebt am Bauernhof und für ihren großen Wurf.


Foto: Filmladen Filmverleih

Das Huhn ist das Tier, von dem der Schlager weiß, das es "nicht viel zu tun" hat. Es legt jeden Tag ein Ei, sonntags auch mal zwei. Und sonst? Sonst pickt es Körner auf dem Hof, oder wenn der Hof etwas hergibt, dann tapst es im Gebüsch herum.

Victor Kossakovsky hat für seinen Dokumentarfilm Gunda ein einbeiniges Huhn gefunden, das sich auf eine Weise auf Expedition durch die bodennahe Natur macht, die man mit den größten Entdeckungen der Menschheit in Beziehung setzen könnte. Gunda handelt ja selbst von einer dieser Entdeckungen: dass Tiere den Menschen viel näher sind, als es das abgrenzende Cogito von Descartes bis Kant wahrhaben wollte.

Kossakovsky ist ein russischer Dokumentarist, der von St. Petersburg vor Jahren nach Berlin gezogen ist. Er hat als Beobachter absurder Kleinigkeiten begonnen – einer seiner schönsten Filme widmete sich ausschließlich dem Blick aus seiner damaligen Wohnung in Russland: Tishe!. Er nahm sich die Welt danach aber auch zwei Mal nach Maßgabe ziemlich majestätischer Koordinaten vor: Lang leben die Antipoden sprang zwischen entgegengesetzten Erdpunkten hin und her, und Aquarela nahm sich als Thema nicht weniger als das Wasser vor – in seiner gesamten Dimension.

Der Schein der Idylle trügt

Gunda ist nun aber ein noch größerer Sprung ins Prinzipielle. Dabei wirkt alles ganz intim. Kossakovsky zeigt ein paar Tiere auf einem Bauernhof im nördlichen Europa. Der Star des Films ist die Muttersau namens Gunda, die ganz für ihren großen Wurf lebt. Die Ferkel widmen sich den Zitzen, dass es eine kreatürliche Lust ist.

Mit den Kühen beschäftigt sich Kossakovsky weniger eingehend, aber er sucht auch da nach einer Lebensform, der ein vollkommenes Lebensrecht zuzuschreiben ist. Der Hof wirkt wie ein kleines Paradies, das erweist sich dann aber als Trugschluss, denn es herrschen auch hier die Gesetze der industrialisierten Landwirtschaft.

Kleines Meisterwerk

Der Schalk in Kossakovsky zeigt sich in einer Szene, die zugleich das grausame Ende andeutet. Er zeigt die Tiere nämlich nicht nur, als wären sie menschliche oder zu (fast allen) menschlichen Regungen fähige Wesen, er filmt eine landwirtschaftliche Maschine so, als wäre sie ein großes Tier, und zwar ein räuberisches. Er dreht die Anthropomorphisierung also auch um.

Gunda ist in Schwarz-Weiß gedreht mit einer virtuosen, bodennahen, sehr beweglichen Kamera. Der Verzicht auf Farbe scheint hier einem Verzicht auf ländliche Idyllik zu dienen. Kossakovsky macht dadurch deutlich, dass Gunda eigentlich so etwas ist wie ein Traktat, der allerdings auf Begriffe verzichtet, sondern sein Argument durch reine Anschaulichkeit macht. Ein kleines Meisterwerk nicht nur des Kinos, sondern auch der indirekten Ethik. (Bert Rebhandl, 3.9.2021)