Lokal-Gründerin Nathalie Schütt und PR-Manager Jockel Weichert haben sich in der Piefke Connection in Wien kennengelernt.

Foto: Christian Fischer

Jockel Weichert kennt den Meidlinger Markt in Wien wie seine Westentasche. Zielsicher geht er an den Ständen vorbei, grüßt ein paar Bekannte, die sich an diesem Montagmorgen an einem der Tische niedergelassen haben. Vor dem Café "Ignaz und Rosalia" macht er halt, einem weiß gestrichenen Stand mit ein paar Holztischen und Sesseln davor. "Das ist ein Stück Deutschland in Wien", sagt Weichert, kurze schwarze Haare, Brille und grauer Mantel. Auf den ersten Blick ersichtlich ist das nicht – woran auch könnte man Deutschland in Österreich erkennen? Der Konditor komme aus Deutschland, sagt Weichert, deshalb könne er hier einen Bienenstich bestellen – den traditionellen deutschen Blechkuchen mit Mandeln. Weichert ist gebürtiger Schwabe, aber seit er in Österreich lebt, ist er oft einfach nur der "Piefke". "In Österreich finden alle Deutschen unter diesem spöttischen Begriff zusammen."

"Piefke": Im Duden wird der Begriff als "eingebildeter Angeber, dümmlicher Wichtigtuer" definiert. Viele der 209.000 Deutschen, die derzeit in Österreich leben, dürften dieses Wort bereits das eine oder andere Mal gehört haben. Noch vor den Rumänen und Serben stellen sie die größte ausländische Bevölkerungsgruppe in Österreich. Nach der Schweiz sind wir damit das zweitbeliebteste europäische Auswanderungsziel der Deutschen. Kein Wunder, liegen die Länder doch nahe beieinander und teilen dieselbe Sprache. Trotzdem ist das Verhältnis zwischen Deutschen und Österreichern seit jeher gespalten: Man liebt sich, lacht mit- und übereinander, beschimpft und verspottet sich aber auch.

"Ihr nehmt uns unsere Jobs weg"

Das erfuhr auch Weichert, als er vor mehr als zwanzig Jahren aus dem damals "saubergeleckten" München ins "schmuddelige und grau verregnete" Wien zog. Er hatte ein Jobangebot im Marketing einer Musikfirma bekommen, wollte eigentlich nur vorübergehend bleiben, habe sich aber schon im ersten Sommer in Wien verliebt. "Piefke" sei er aber von Anfang an gewesen. "Da heißt es: Ah, du Piefke, du hast keinen Schmäh. Oder: Ihr Piefke nehmt uns unsere Jobs weg", sagt er. Würde man das zu Türken oder anderen Gruppen sagen, wäre das sofort ausländerfeindlich. Bei Deutschen hingegen sei das total okay.

Als Deutscher in Österreich müsse man sich dessen bewusst sein, dass man schon allein aufgrund des Idioms anders wahrgenommen werde, sagt der 47-Jährige – und aufgrund der Loyalitäten beim Fußball. Als Weichert bei der WM 2006 in Wien das deutsche Team feierte, habe er aufpassen müssen, "keine aufs Maul zu bekommen". Als Folge gründete er zwei Jahre später die "Piefke Connection Austria", ein Netzwerk, in dem Deutsche, die in Österreich leben, sich austauschen und gemeinsam Fußball schauen können. Mittlerweile hat der Verein auf Xing und Facebook über 7000 Mitglieder. Man gebe sich durchaus auch praktische Informationen, etwa wie man in Wien sein Auto ummelden könne, es seien aber auch schon Babys aus dem Netzwerk entstanden, sagt Weichert. Den Begriff Piefke verwende er jedenfalls bewusst, um ihm "den Wind aus den Segeln zu nehmen".

Österreicher nicht so offen

Auch Nathalie Schütt hat es nach ihrer Umsiedlung von Berlin nach Wien vor drei Jahren in das Netzwerk der "Piefke Connection" verschlagen, um "Kontakte zu knüpfen". "Österreicher sind zwar freundlich, aber gefühlt nicht so offen", sagt sie. Vor drei Jahren eröffnete sie gemeinsam mit ihrem Mann das erste Wiki-Wiki-Poke-Lokal in Wien, wo die typisch hawaiianischen Bowls zubereitet werden. "In Berlin gab es das schon länger, in Wien noch nicht wirklich." Negative Erfahrungen habe sie bisher kaum gemacht, nur bei der Kommunikation sei es hin und wieder zu Missverständnissen gekommen: "Wenn dir ein Deutscher sagt, dass er sich bei dir meldet, tut er das meist auch. In Österreich heißt ‚Ich melde mich‘ so viel wie gar nichts."

Aber wo und wer sind eigentlich "die Deutschen" in Österreich? Laut Statistik Austria leben die meisten von ihnen in Wien, gefolgt von Tirol und Oberösterreich. Der durchschnittliche Deutsche ist laut AMS vor allem in der Warenherstellung, im Handel und in der Beherbergung und Gastronomie tätig. In den vergangenen Jahren waren Deutsche im Vergleich zu Österreichern unterdurchschnittlich oft arbeitslos.

Die deutsche Diaspora

Und was ist mit den vielen abfällig so bezeichneten "Numerus-clausus-Flüchtlingen" – oder kurz "NC-Flüchtlingen" –, also Studierenden, die in Deutschland aufgrund ihres Notendurchschnitts keinen Studienplatz bekommen würden? Tatsächlich ist die Zahl deutscher Studierender in Österreich in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen, von 24.000 im Jahr 2009 auf rund 37.000 im Jahr 2019. Der Anteil Deutscher an den Studierenden insgesamt ist mit rund zehn Prozent aber relativ gleich geblieben.

David Diel kennt den Vorwurf, dass sich an den österreichischen Unis die "NC-Flüchtlinge" breitmachen würden. 2014 ist der gebürtige Heidelberger nach Wien gezogen, um Medizin zu studieren – aber nicht wegen seines Notenschnitts, sondern weil er bereits Freunde in der Stadt hatte, sagt der 27-Jährige im blauen Arztkittel während einer Nachmittagspause im Krankenhaus. Er habe den Eindruck, dass an der Uni in Wien eine gewisse "deutsche Diaspora" existiere, also Cliquen an Deutschen, die unter sich bleiben wollen. Das sei jedoch auch nachzuvollziehen, da viele der Studierenden relativ jung nach Österreich kämen und hier erst Anschluss finden müssten.

Sein persönliches Verhältnis zu Österreich sei jedenfalls "sehr ambivalent": "Sobald ich weg bin, vermisse ich Wien. Trotzdem habe ich bis heute das Gefühl, nicht so ganz dazuzugehören – und das, obwohl ich seit fünf Jahren eine österreichische Freundin und viel mit Österreichern zu tun habe."

Zum Deutschen "gemacht"

Eine Studie der WU Wien zu den Befindlichkeiten der Deutschen in Österreich aus dem Jahr 2016 deutet in eine ähnliche Richtung. Darin meinte mehr als die Hälfte aller befragten Deutschen, dass sie erst in Österreich zum Deutschen "gemacht" worden seien. Knapp ein Drittel gab an, mehrmals im Monat bis mehrmals im Jahr "mit weniger Respekt als andere Menschen behandelt" zu werden. Der Studienautor und gebürtige Kölner Thomas Köllen führte dies darauf zurück, dass es für die österreichische Identität wichtig sei, sich von Deutschen abzugrenzen. Oder wie der deutsche Autor und Journalist Hubertus Godeysen schrieb: Österreicher haben das stolze Bewusstsein, keine "Piefke" zu sein.

"Einen gewissen Minderwertigkeitskomplex gibt es in Österreich schon", sagt Weichert. Als Deutscher werde man deshalb schnell als arrogant und besserwisserisch abgekanzelt. Dabei äußere man als Deutscher eben schneller seine Meinung und Kritik, während man in Österreich "mehr zwischen den Zeilen lesen muss". Ähnlich formuliert es auf Nachfrage auch der deutsche Radiomoderator Fred Schreiber, der seit mehr als 25 Jahren in Wien lebt: "Das Schwierige für viele Deutsche ist ja nicht der Dialekt, sondern eher das zu verstehen, was der Wiener gerade nicht sagt."

Auf der anderen Seite gebe es natürlich auch Deutsche, die "unintegrierbar" seien, sagt Weichert. Für ein gelungenes Zusammenleben braucht es eben einen Austausch von beiden Seiten. Dass das seit Jahren gelingt, zeigen die hohen Zahlen an Deutschen und Österreichern, die sich in dem jeweils anderen Land niederlassen, Familien gründen und Freundschaften schließen. Denn lässt man einmal die feinen Unterschiede zwischen beiden Ländern beiseite, so könnten letzten Endes wohl doch die Gemeinsamkeiten überwiegen. (Jakob Pallinger, 7.9.2021)