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Taliban-Kämpfer überwachen die Situation an der Grenze zu Pakistan.

Foto: Reuters

Knapp drei Wochen nach der Taliban-Machtübernahme in Afghanistan nimmt die Regierung der radikalen Islamisten Form an. Der Chef des Taliban-Politbüros, Mullah Baradar, werde die Regierung in Kabul leiten, verlautete am Freitag aus Taliban-Kreisen. Der Sohn des verstorbenen Taliban-Gründers Mullah Omar, Mullah Mohammad Jakub, werde eine hochrangige Position in der Regierung einnehmen, sagten drei mit den Vorgängen vertraute Personen der Nachrichtenagentur Reuters.

Regierung nimmt Formen an

Das Amt der Regierungschefs wird allerdings nicht das wichtigste im Staat sein. Geplant ist demnach auch ein oberster Führer, der über dem Kabinett stehen soll. Für diesen Posten ist wohl der bisherige Taliban-Chef Mawlawi Hibatullah Akhundzada vorgesehen. Die Aufgabenverteilung spiegelt die bisherige Führungsstrategie der Gruppe wider. Neben Politik, für die Baradar zuständig ist, gibt es noch zwei weitere Führungsbereiche – nämlich Religion und Militär. Die für Freitag erwartete Bekanntgabe einer Regierung für Afghanistan wird allerdings erst nun frühestens für Samstag erwartet.

Aus Taliban-Kreisen verlautete weiter, die neue Regierung werde 25 Ministerien umfassen. Der Regierung werde zudem ein Beirat bestehend aus zwölf muslimischen Gelehrten zur Seite stehen. Binnen sechs bis acht Wochen soll zudem die Versammlung der Loja Jirga zusammenkommen, in der Vertreter der Regionen und der Zivilgesellschaft über eine Verfassung beraten sollten.

EU-Bedingungen

China signalisierte den neuen Machthabern in Afghanistan als erste Großmacht Entgegenkommen. Peking werde seine Botschaft in Kabul weiter betreiben, teilte Taliban-Sprecher Suhail Shahin am Freitag auf Twitter mit.

Die Außenminister der EU-Staaten haben sich indes auf fünf Bedingungen für eine beschränkte Zusammenarbeit mit den Taliban verständigt. Das "operative Engagement" mit den neuen Machthabern soll demnach schrittweise hochgefahren werden, wenn die Taliban eine Regierung unter Einbindung auch anderer politischer Kräfte im Land bilden und die Ausreise von schutzbedürftigen Menschen ermöglichen. Zudem sollen sie die Einhaltung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit gewähren, humanitäre Hilfe ermöglichen und garantieren, dass Afghanistan nicht wieder zu einer Basis für international operierende Terrorgruppen wird.

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) zeigte sich sehr zufrieden mit dem Ergebnis des Treffens. "Wir haben eine klare Marschrichtung gegenüber Afghanistan, einen Leitfaden für den Umgang mit der künftigen afghanischen Regierung." Auch er betonte, dass man die technische Zusammenarbeit mit den Taliban von der diplomatischen Anerkennung unterschieden müsse.

Keine große Fluchtbewegung zu erwarten

Die Machtübernahme der Taliban hat tausende Menschen in die Flucht getrieben. Nicht nur Ortskräfte, die für die USA oder deren Verbündete gearbeitet hatten, müssen von den neuen Machthabern Vergeltung befürchten, auch Intellektuelle werden das Land verlassen, erwartet der Migrationsexperte Kilian Kleinschmidt. Unter diesen werde es zu einer Bewegung Richtung Europa kommen, und das seien Menschen, "die wir aufnehmen sollen und auch müssen". Eine Migrationswelle wie 2015 erwartet der Deutsche, der auch mehrere österreichische Bundeskanzler beriet, nicht. "Ich sehe nicht, dass auf einmal wieder 500.000 Menschen vor der Tür stehen."

Was allerdings sehr wohl zu Massenbewegungen führen könnte, ist laut Kleinschmidt eine Verschärfung der Hungersnot, die in Afghanistan bereits seit vier Wochen herrscht. Die Nachbarstaaten wie Pakistan hätten ihre Grenzen geschlossen, zudem sei nach dem Abzug des Westens die Finanzierung humanitärer Programme schwieriger geworden. Aber "das heißt noch lange nicht, dass alle Richtung Europa kommen", so Kleinschmidt – außer der Flüchtlingsstrom werde instrumentalisiert und gefördert, wenn etwa jemand tausende Afghanen in ein Drittland weiterfliegen lasse, wie das jetzt etwa im Baltikum mit Belarus geschehe.

Talibanführer sprechen von Eroberung des Pandschir-Tals

Die Taliban haben nach Angaben aus ihren Reihen mit einer Einnahme des bisher von ihren Gegnern gehaltenen Pandschir-Tals ganz Afghanistan erobert. "Mit der Gnade Allahs des Allmächtigen haben wir die Kontrolle über ganz Afghanistan", sagte ein Militärführer der Extremistengruppe am Freitag. "Die Unruhestifter haben sich ergeben und Pandschir steht nun unter unserem Befehl." Zwei weitere Personen aus Kreisen der Taliban äußerten sich ebenso. Zwei führende Taliban-Gegner erklärten jedoch, der Widerstand ihres Lagers dauere an.

Der frühere Vizepräsident Amrullah Saleh, der zu den Anführern der Taliban-Gegner zählt, dementierte Berichte, denen zufolge er außer Landes geflohen sein soll. In einem von einem BBC-Journalisten auf Twitter veröffentlichten Videoclip räumte Saleh zwar ein, er und seine Anhänger befänden sich in einer schwierigen Lage. "Der Widerstand dauert an und wird andauern", erklärte Saleh jedoch auf Twitter. Er verteidige seinen Boden. Amrullah Salehs Sohn Ebadullah Saleh erklärte in einer Textnachricht, die Behauptung, das Pandschir gefallen sei, sei falsch.

Zuletzt hatten beide Seiten heftige Kämpfe um die letzte noch nicht von den Islamisten kontrollierte Provinz gemeldet. Die Taliban hatten am Donnerstag erklärt, der Einsatz in Pandschir sei begonnen worden, nachdem Verhandlungen mit der "bewaffneten örtlichen Gruppe" dort fehlgeschlagen seien. Ein Sprecher der Nationalen Widerstandsfront von Afghanistan (NRFA) hatte gesagt, man habe alle Vorstöße der Taliban abgewehrt und kontrolliere weiter alle Zugänge zum Pandschir-Tal. Beide Seiten berichteten von schweren Verlusten auf der gegnerischen Seite.

Hilfsgelder für Nachbarländer

Ein bisschen Normalität zeichnet sich im Inlandverkehr in Afghanistan ab. Die afghanische Fluggesellschaft Ariana habe grünes Licht von den Taliban und den Luftfahrtbehörden erhalten und plane "heute mit Flügen zu beginnen", sagte ein Unternehmensvertreter am Freitag. Die Taliban hatten Inlandsflüge untersagt. Die Ariana verfügt über eine kleine Flotte oft veralteter Flugzeuge. In der EU und den USA darf die Gesellschaft deshalb nicht operieren.

Die Uno hat ihren humanitären Flugdienst (UNHAS) in Afghanistan bereits wiederaufgenommen. 160 humanitäre Organisationen können ihre Arbeit in den afghanischen Provinzen fortsetzen, hieß es. Durch den Passagierflugdienst sei derzeit die pakistanische Hauptstadt Islamabad mit Mazar-e-Sharif im Norden und Kandahar im Süden Afghanistans verbunden.

Halbe Million Flüchtlinge

Nach Angaben des Flüchtlingshochkommissariats UNHCR könnten bis zum Jahresende jedenfalls bis zu eine halbe Million Afghanen in die Nachbarstaaten fliehen. Wo sich der Migrationsdruck am stärksten entladen dürfte, sind die Nachbarländer Afghanistans. Großbritannien will dort insgesamt 30 Millionen Pfund, umgerechnet rund 35 Millionen Euro, für die Unterbringung Geflüchteter bereitstellen.

Wie die britische Regierung am Freitag erklärte, sollen zehn Millionen Pfund dem UNHCR und anderen humanitären Gruppen zur Verfügung gestellt werden, um Unterkünfte und sanitäre Einrichtungen an den Grenzen zu errichten. Der Rest soll an Länder gehen, die eine große Zahl von Flüchtlingen aufgenommen haben, um die wichtigsten Dienstleistungen bereitzustellen. Großbritannien will demnach insgesamt etwa 20.000 Geflüchtete aus Afghanistan aufnehmen. Die britische Regierung will für sie Integrationskurse einführen. Neben Sprachunterricht und Hilfe beim Einstieg in den Arbeitsmarkt sollen dabei auch Inhalte zur britischen Kultur sowie dem zivilgesellschaftlichen und politischen Leben vermittelt werden, teilte Innenstaatssekretär Robert Jenrick einem Bericht der "Times" vom Freitag zufolge mit.

Sassoli für Umverteilung der Flüchtlinge

EU-Parlamentspräsident David Sassoli sagte in einem Zeitungsinterview, dass Hilfe vor Ort angesichts der humanitären Krise zu wenig sei. Es reiche nicht, sich um die Nachbarländer zu kümmern. Der Italiener sprach sich in der "Repubblica" für eine "gerechte Umverteilung" afghanischer Flüchtlinge in Europa unter Aufsicht der EU-Kommission aus. "In einem großen geografischen Raum mit 450 Millionen Bürgern ist es möglich, dass man nicht in der Lage ist, einigen zehntausend Menschen in Schwierigkeiten Schutz zu gewähren?"

Die Möglichkeit eines Dialogs mit den Taliban zur Öffnung humanitärer Korridore schloss Sassoli nicht aus. "Wenn die neuen afghanischen Behörden entsprechende Signale aussenden, werden wir nicht zurückweichen." Für den Aufbau humanitärer Korridore brauche man die Zustimmung der neuen Regierung in Kabul.

Aus Deutschland nach Amerika

Rund 17.000 Afghanen warten derzeit auf US-Stützpunkten in Deutschland auf die Weiterreise in die USA. Laut dem Kommandanten der US-Streitkräfte in Europa, General Tod Wolters, werden die Menschen davor zweimal überprüft – einmal bei der Ankunft und ein weiteres Mal kurz vor der Abreise in die USA. Man habe bisher eine verdächtige Person aufgespürt, die sich nun in Gewahrsam befinde, sagte Wolters. Details zu dem Verdächtigen nannte er nicht, er sprach aber von einer "großen Bedrohung".

Wolters lobte generell die "hundertprozentige Unterstützung" der Behörden Deutschlands, aber auch Italiens und Spaniens – in diesen beiden Ländern befinden sich rund 4.300 Afghanen auf Durchreise in die USA – bei der Mission. Schutzsuchende werden registriert und bei Bedarf medizinisch behandelt. (mesc, APA, Reuters, red, 3.9.2021)