Viele Täter kommen aus der Mitte der Gesellschaft – sie wirken also unauffällig, weil sie der Norm entsprechen.

Foto: Christian Fische / Imago

Wann ist Ihnen das letzte Mal ein auffälliger Mann begegnet? Was hat er getan, um Ihnen aufzufallen? War er seltsam gekleidet? Hat er merkwürdig gesprochen? Sich extraordinär verhalten? Die Frage, was Männer auffällig beziehungsweise unauffällig macht, beschäftigt mich seit einigen Jahren. Nicht erst seitdem in der Gratiszeitschrift "Heute" Nachbarn eines mutmaßlichen Rohrbombenbastlers mit den Worten zitiert wurden:

"Er konnte Ausländer nicht leiden und schrie 'Heil Hitler'. Mitunter beschimpfte er auch Arbeiter, die an seinem Haus arbeiteten, sonst war er aber unauffällig."

In dem vorliegenden Fall scheint das genannte Verhalten des Mannes Aufmerksamkeit erregt haben. Dass er sich als Nazi geriert und andere Leute beschimpft hat, ist offenbar bemerkt worden. Zugleich scheint es nicht auffällig genug gewesen zu sein, um einzuschreiten. In Österreich erfüllt ein verbaler Hitlergruß eigentlich den Tatbestand nationalsozialistischer Wiederbetätigung nach § 3g des Verbotsgesetzes. Trotzdem scheint das niemanden ausreichend stutzig gemacht zu haben.

Kein Spaß an Denunziantentum?

Bisschen Nazi sein und ab und zu ausrasten reicht halt nicht. Wir befinden uns in diesem und anderen Fällen offenbar im Graubereich von "Ja, irgendwie nicht korrekt, passiert aber schon mal – kann man drüber hinwegsehen". Aber warum können wir darüber hinwegsehen? Wie sind wir in diesen Graubereich reingeraten? Und weshalb verlassen wir ihn nicht? Da wäre zum einen der natürliche Aufwandswiderstand: Och nein, das bringt nur Stress und Scherereien, damit will ich nichts zu tun haben.

Als zweiten Punkt wollte ich an dieser Stelle den Unwillen zur Denunziation anführen. Aber das wäre ziemlich lächerlich: Seit wann hat man in Deutschland und Österreich keinen Spaß an Denunziantentum? Den Punkt müssen wir also streichen. Da ist aber noch etwas anderes: Zum einen kommen solche Täter mehr und mehr aus der Mitte der Gesellschaft, wie es eine Studie formuliert. Sie wirken also unauffällig, weil sie der Norm entsprechen. Zum anderen scheint die sogenannte Mitte der Gesellschaft erstaunlich tolerant mit ausgesprochen unangenehmen Verhaltensweisen umzugehen und sie bis zur Unauffälligkeit mit ihrem Desinteresse zu bemänteln.

Wir haben es also mit einem doppelten Problem zu tun: Mit Tätern, die in vielerlei Hinsicht so aussehen, handeln und sprechen wie wir. Und mit einer Zivilgesellschaft, die erstaunlich viel Geduld und Verständnis, um nicht zu sagen Sympathien, für Täterverhalten aufbringt. Ich habe hier schon häufiger darüber berichtet, in welchen Zusammenhängen und entlang welcher Erzählungen von Männlichkeit sich derlei Täterverhalten entwickelt. Beschrieben, wie bedauernswert es ist, dass stereotyp männliches Verhalten so gar keine Schnittmenge mit dem zu haben scheint, was gute Menschen ausmacht.

So selbstverständlich

Aber ich habe für meinen Geschmack noch viel zu wenig darüber gesagt, warum uns diese Mechanismen so kalt lassen. Warum wir so selbstverständlich wegschauen.

Jede Frau kennt mindestens eine Frau mit Gewalterfahrung aber kein Mann kennt einen Gewalttäter – das kann doch so nicht stimmen. Also wo ist der Fehler?

Der Kulturwissenschafter und Autor Jackson Katz hat zu dieser Problematik 2006 ein Buch mit dem Titel "The Macho Paradox: Why Some Men Hurt Women and How All Men Can Help" veröffentlicht. Im Vorwort dazu beschreibt er ein Experiment, das er im Laufe seiner Präventionsarbeit gegen genderspezifische Gewalt immer wieder durchgeführt hat. Katz fragte Männer, was sie täglich tun würden, um zu verhindern, dass man ihnen sexualisierte Gewalt antut. Die einhellige Antwort auf diese Frage waren verschiedene Versionen von "Keine Ahnung, hab ich noch nie drüber nachgedacht, hat mit mir nichts zu tun".

Frauen hingegen gaben an, notwendigerweise über einen ganzen Maßnahmenkatalog zu verfügen, mit dem sie sich Tag für Tag gegen gewalttätige Übergriffe wappnen: Sie achten darauf, nicht zu viel Alkohol zu trinken und zuzusehen, wie er ihnen eingeschenkt wird. Tragen ihre Schlüssel als Waffe zwischen den Fingern. Gehen nachts nicht joggen. Stellen sicher, dass sie sich bei Dates an öffentlichen Plätzen treffen und ihnen vertraute Personen wissen, wo sie sind. Die Liste dieser Aussagen macht in den sozialen Netzwerken seit Jahren immer wieder die Runde.

Die Frage lautet nun, warum sie das wie erwähnt "notwendigerweise" tun? Was heißt das? Warum tut das Not? Zunächst einmal ganz klar wegen der Täter. Aber eben auch wegen dem, was Katz mit dem Zuschauereffekt in Verbindung bringt: Wir stehen einfach daneben und weigern uns Verantwortung zu übernehmen. Nicht etwa aus Furcht, sondern aus pluralistischer Ignoranz. Das bedeutet, dass wir zwar mehrheitlich keinen beispielsweise rassistischen oder sexistischen Ideologien anhängen, aber glauben, dass alle anderen es tun, und massentauglich handeln wollen.

Oder wir sind Überzeugungsmittäter. Um all das zu ändern, müssen wir unsere Kriterien für auffälliges und unauffälliges Verhalten verändern. Sich rassistisch oder sexistisch zu äußern ist nicht unauffällig. Menschen Gewalt anzudrohen ist nicht unauffällig. Frauen unaufgefordert Dickpics zu schicken und sie in den sozialen Netzwerken als "Schlampen", "Fotzen" oder "Huren" zu bezeichnen ist nicht unauffällig. Es ist auch kein Graubereich. Es ist unser aller Problem, das wir sehr genau beobachten sollten. Und entsprechend handeln. (Nils Pickert, 5.9.2021)