Bei einem Ereignis von solch "schrecklicher Größe" liegt die Aufgabe der Literatur darin, es nicht auf die "eigene Kleinheit" zu reduzieren.

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Am 11. September 2001 kam der deutsche Schriftsteller Ulrich Peltzer in Berlin am späteren Nachmittag aus der Staatsbibliothek nach Hause und fand eine Nachricht aus New York auf seinem Anrufbeantworter vor. Er hörte etwas von Krieg und Bestürzung, von Terror ungeahnten Ausmaßes, und während er noch versuchte, Klarheit zu gewinnen, stieg ein Gefühl in ihm hoch, "es habe sich etwas ohne Vergleich ereignet". Ulrich Peltzers Erzählung Bryant Park war 2002 eine der ersten literarischen Reaktionen auf die Anschläge von 9/11. Die Flugzeuge, die in die beiden Türme des World Trade Center gesteuert wurden, der Angriff auf die USA durch fundamentalistische Muslime, der Einsturz eines der symbolträchtigsten Gebäude der New Yorker Skyline, das alles waren Aspekte eines Ereignisses, von dem es heute heißt, es wäre als Geburtsstunde der Gegenwart zu bezeichnen.

Das ist zwar deutlich Verlagssprache, ein neues Sachbuch von Stefan Weidner heißt so (9/11 und die Geburt der Gegenwart). Aber hinter dieser Formulierung steckt ein Aspekt, der gerade auch für die Beschäftigung der Literatur mit dem Ereignis von Bedeutung ist: Es erweckte damals den Eindruck eines Übermaßes an Gegenwart, es war auf eine Weise katastrophal, aber auch faszinierend, die sich der Verarbeitung zu entziehen schien. 9/11 wurde schließlich auch durch die Reaktion der Politik, die einen "Krieg gegen den Terror" erklärte, relativ schnell gleichsam weggesperrt, in einer typischen posttraumatischen Reaktion.

Literarische Rückzugserklärung

Und so schienen erst einmal die frühen Reaktionen den Weg zu weisen, die 9/11 mit Aspekten der Undarstellbarkeit verbanden. Toni Morrison hatte in lyrischer Form bekundet, dass sie über keine Worte verfügte, die stärker wären als der Stahl, von dem die Opfer im World Trade Center zermalmt wurden, und sie schrieb, dass nicht Geschriebenes "älter oder eleganter" sein könnte als die Atome, zu denen die Toten geworden waren. Das ist eine klassische literarische Erklärung eines Rückzugs vor einem Ereignis, das bei Morrison nahezu naturhistorische Dimensionen bekommt, in diesen aber eben auch verschwindet. Sie hat als spontane Reaktion ihren Ort, wurde aber, wie alle Text- und Bilderverbote, natürlich nicht beherzigt.

Zu 9/11 sind seither zahlreiche Romane und andere literarische Werke erschienen, die aber alle die besondere Herausforderung dieses Ereignisses für Versuche der Darstellung erkennen lassen. Ein wichtiger Aspekt besteht in der Übermacht der Bilder: Die Nähe der Fernsehbilder von den kollabierenden Türmen zu Katastrophenfilmen aus Hollywood wurde sofort erkannt, wichtiger aber war vielleicht noch, dass New York insgesamt von dieser "Wunde" (Jacques Derrida) betroffen zu sein schien. Für Schriftsteller und Intellektuelle war New York die "Pflichtstadt" (Lothar Müller), und so war es auch nur folgerichtig, dass jemand wie Peltzer oder auch Kathrin Röggla damals zufällig in der Stadt waren, und sie alle kamen nicht darum herum, ihr Bild von der Stadt mit den schon vorhandenen abzugleichen. In diesen Prozess drangen nun die Bilder von den Türmen.

Alltag der Nullerjahre

Der deutsche Schriftsteller Rainald Goetz reagierte fast ein Jahrzehnt später, 2010, auf eine sehr originelle Weise auf den visuellen Aspekt von 9/11, indem er in sein Langzeitprojekt und müsste ich gehen in dunkler Schlucht einen Fotografieband aufnahm, den er einfach elfter september 2010 nannte, und in dem er den Begriff der Ruinen aus dem Kontext von Ground Zero herausholte: Goetz verortete den Berliner Alltag der Nullerjahre, den man in seinem Buch zu sehen bekommt, "in den Ruinen der Projekte", und ließ damit immerhin in einer Andeutung erkennen, dass er in einer Zeit lebte, die durch Unterbrechung und Diskontinuität geprägt war. Vor allem aber setzte er dem ikonischen Bildmaterial vom Himmel über New York und von den Häuserschluchten, durch die eine Staubwolke fegt wie einst die Lava durch die Häuserzeilen in Pompei, ausdrücklich beiläufige Bilder entgegen. Das Buch von Goetz hat beinahe den Charakter einer konzeptkünstlerischen Intervention in einen Sakralisierungsdiskurs, von dem 9/11 gerade auch rund um den zehnten Jahrestag 2011 umgeben war.

Die großen amerikanischen Versuche einer literarischen Verarbeitung probierten zwar das Ihre, um dieser Überhöhung entgegenzuarbeiten: Don DeLillo erzählte in Falling Man (2007), die deutsche Übersetzung erschien bei Kiepenheuer & Witsch, auf die für ihn typische Weise in Form einer historisch gesättigten Melancholie von einem Überlebenden, David Foster Wallace suchte in der Erzählung The Suffering Channel (einem September-10-Text, wie das einschlägige Genre inzwischen bezeichnet wird) nach der Berechtigung seiner skeptischen Haltungen unter dem Eindruck eines Ereignisses, das oft auch als Endpunkt eines Zeitalters der Ironie gesehen wurde; Jonathan Safran Foer machte in Extrem laut und unglaublich nah (2005) einen Neunjährigen zum Protagonisten einer Suche nach Spuren seines Vaters, der am 11. September 2001 zu den Opfern gezählt hatte, und verschränkt dabei die Katastrophe von New York mit der Bombardierung von Dresden.

Das posttraumatische Amerika

John Updike, der sich immer schon für religiöse Aspekte interessiert hatte, hatte in einer spontanen Reaktion für den New Yorker am 24. September 2001 ein Programm für sich vorgegeben, das dem von Toni Morrison vergleichbar war, aber auch einen Ausweg bot: Bei einem Ereignis von solch "schrecklicher Größe" liegt die Aufgabe der Literatur darin, es nicht "auf die eigene Kleinheit (des Autors) zu reduzieren". Mit seinem Roman Terrorist (2006) überschritt er diese Kleinheit seiner weißen Subjektivität programmatisch, indem er den Werdegang eines religiösen Fanatikers nachvollziehbar zu machen versuchte. Zwanzig Jahre nach 9/11 wird allgemein konstatiert, dass ein weiterer Anschlag dieses Ausmaßes ausgeblieben ist. Man vergisst darüber dann auch gern, dass gerade die ersten Jahre nach 2001 gerade von dieser Angst geprägt waren: dass irgendwo ein nächster Plan gemacht wurde, um das Schreckliche noch zu überbieten. Updike schrieb mit den Mitteln eines klassischen, identifizierenden Romans in dieses Misstrauen hinein, das den amerikanischen Alltag – und auf andere Weise auch den Alltag der globalen, reisenden Schichten – seither nicht mehr losgelassen hat.

Es bedurfte aber dann noch einiger Zeit, um die auch identitätspolitische Schockstarre, die 9/11, mehr noch aber der Krieg gegen den Terror ausgelöst hatte, allmählich zu überwinden. Dass die Anschläge ein weltweites Ereignis waren, war zwar immer schon klar gewesen, hatte in Amerika aber eher zu einer Bestärkung nationaler Mythologien geführt, die der eigenen Globalität nicht in die Augen sehen wollte. Das Amerika, das sich als Hort der "Gerechtigkeit" sehen wollte, verdrängte dabei, wie sehr es im Inneren durch 9/11 neue Rassismen entwickelt hatte. Amy Waldman schrieb darüber den Roman Der amerikanische Architekt (2011, Deutsch 2013), in dem sie von einem Wettbewerb für eine Gedenkstätte am Ground Zero im Jahr 2003 erzählte. Der Gewinner erweist sich als amerikanischer Muslim. Diese Idee gibt Waldman die Gelegenheit, ein reiches Gesellschaftspanorama des posttraumatischen Amerika zu erzählen.

Repression und Rassismus

Die vielleicht wichtigste literarische Position aus diesem heutigen Amerika kommt von Ayad Akhtar, einem Sohn pakistanischer Einwanderer aus dem Bundesstaat Milwaukee. Sein Roman Homeland Elegies (2020), als Homeland Elegien auf Deutsch im Claasen-Verlag erschienen, beschreibt zum einen sehr genau die Mentalitäten und Gefühle einer Familie, die gleichzeitig in der Gegenwart und in Amerika und im Land der Herkunft (und damit immer auch in vorgestellten Vergangenheiten) lebt. Und Ayad Akhtar lässt keinen Zweifel daran, dass die Muslime, die 2001 Amerika angegriffen haben, vor allem das Leben der Muslime in Amerika zerstört haben.

Zwanzig Jahre nach 9/11 ist die Literatur also doch ihrer Verantwortung gerecht geworden. Sie hat begonnen, ein Trauma aufzulösen. Es war nicht zuletzt eine reaktionäre Politik, die an diesem Trauma ein großes Interesse hatte, als einer Urszene von Repression und Rassismus, auf die sie sich nach Möglichkeit endlos berufen konnte. Die Künste, die Literatur und im engeren Sinn der Roman mit seinen Möglichkeiten der Identifizierung mit anderen und anderem können die Wunde von 9/11 nicht schließen, aber dem Schmerz eine Geschichte geben. (Bert Rebhandl, ALBUM, 5.9.2021)