Wäre der Leipziger Stadtteil Connewitz ein Mensch aus Fleisch und Blut: Man müsste ihn schon wegen seines Äußeren für die bürgerliche Vorstellungswelt verloren geben. Dabei strotzt Connewitz, stolzester Teil des südlichen Stadtbezirks, nur so vor wertvoller Bausubstanz. Eine Vielzahl von Gründerzeithäusern trägt einen geradezu unverschämt frischen Mauerputz zur Schau. Der Jugendstil Leipziger Prägung? Hat sogar die strapaziöse Spreewald-Gurken-Diktatur der SED heil überstanden. Oder, wie der Leipziger SPD-Spitzenkandidat Holger Mann sarkastisch andeutet: "Die DDR ist 1989 gerade rechtzeitig zugrunde gegangen! Sonst wäre ein Großteil der Altbausubstanz wohl nicht zu retten gewesen."

In Schaukästen locken heute Wohnungen ("Ihr neues Zuhause in der Südvorstadt!") mit kulanten Mietvorschreibungen. Niemand muss mehr als 20 Euro für den Quadratmeter berappen! Wer am "Leip-Chic" der "Boomtown" Leipzig teilhaben möchte, ist freundlich eingeladen, von weither zu kommen. Das behagliche Mietglück in München ist manchem Krösus an der Isar schließlich seine 24,50 Euro pro Quadratmeter wert.

Arg beschaulich geht es in den Connewitzer Seitenstraßen zu. Alles heißt hier nach den Gründerzeiten der Tante Sozialdemokratie, nach Bebel und Liebknecht (Vater Wilhelm, nicht Sohn Karl). Diese Tage läuft die Ausstellung Der Leipziger Liebknecht im Stadtgeschichtlichen Museum: wenn auch nur im Keller. Freunde von Karl Liebknecht, dem milden Radikalen, können jetzt seinen Original-Zwicker hinter Glas bewundern. Schmuck nehmen sich zudem die Porzellanfiguren von Liebknecht und Genossin Rosa Luxemburg als Salz- und Pfefferstreuer aus. Sträflich unterbelichtet bleibt die schändliche Ermordung der beiden 1919 in Berlin: das historische Versagen der SPD, die Bagatellisierung brutaler rechter Gewalt.

In der Hammerstraße im Stadtteil Connewitz in Leipzig.
Foto: Felix Adler

Willkommen in Bio-City

Heute ist alles anders. Leipzig wächst unaufhörlich, knallt durch die Decke. Mehr als 600.000 Menschen bevölkern die Bach- und Mendelssohn-Stadt, Tendenz steigend. Die verarbeitende Industrie? Ist runtergerutscht auf 15 Prozent. Heute residieren Hochschulen in "Bio-City", lehren neu gegründete Institute "biologische Diversität". Es gibt Co-Working-Places und Social Labs. Eine Vielzahl von Studentinnen und Studenten steht nicht nur von früh bis spät an den Zapfhähnen. Tausende von ihnen arbeiten im öffentlichen Dienst der rot-rot-grün regierten City (Oberbürgermeister Burghard Jung ist wiedergewählter Sozi).

Es ist August, und noch lullen die wahlwerbenden Parteien aufgrund ferialer Ruhebestimmungen die Südleipziger mit ohrenbetäubender Stille ein. Einzig "Die Linke" verspricht in Person ihres Spitzenkandidaten Sören Pellmann und mit der Gönnerhaftigkeit des Platzhirschs, "sozial mit aller Kraft" zu handeln. Hat man Glück, trifft man in der Süd-Vorstadt, vor den Fabrikmauern der alten Futtermittelzentrale ("VEB Feinkost Leipzig"), auf ein paar grüne Zettelverteiler.

Wie ist die Stimmung für Annalena und Co? "Bestens!" Die hierorts auftretende "Grüne"-Kandidatin heißt Dr. Paula Piechotta und ist Klinikärztin. Sie wirbt – wenig überraschend – für die "Zukunft". Und spricht sich unbedingt für "faktenbasiertes" politisches Handeln aus. Das ausnehmend unebene Pflaster in Südvorstadt/Connewitz ist für die Grünen ein traditionell hartes. Wahlplakate würden in diesem Elster-Paris mit seinen langen, pilsfarbenen Chausseen ohnedies kaum Eindruck hinterlassen. Wer, im Zentrum losstiefelnd, die Karl-Liebknecht-Straße schnurstracks in Richtung Süden entlangeilt, gewahrt nicht ohne Staunen die immer zackigeren Proben einer farbintensiven Ausdruckskunst: das Graffiti-Malen.

Dieses ist beim bürgerlichen Teil der Anwohnerschaft verpönt und anarchistisch beleumundet. In Connewitz genießt die "Antifa" eine Art natürliches Heimrecht. Engagierte Anwohner wie Petra Elias, CDU-Vorsitzende im Ortsverband Süd, zeigen sich fassungslos und genervt zugleich: "Wir hatten hier am Connewitzer Kreuz einen ,Wonnekids‘-Laden: nachhaltiges Spielzeug, eine prima, weil gegen den Kommerz gerichtete Sache! Was war? Der Laden wurde umgehend mit Sprayfarbe zugeschmiert!"

Wäre der Stadtteil Connewitz tatsächlich ein Mensch aus Fleisch und Blut, er lebte bewusst mit dem Rücken zum Rest der Welt. Den Buckel könnte man ihm herunterrutschen. Über beschmierten Hauseingängen wird Ordnungshütern das Fernbleiben empfohlen ("No Cops"). Eine Aufschrift warnt: "Vorsicht, freilaufende Bullen!" Im Umkreis von Szenetreffs und Kietz-Kneipen trifft man auf tiefenentspannte Pils-Trinker. Die blicken vorbeiradelnden Damen freundlich hinterher: "Komm zurück, Süße, und wir verabreden uns!"

Ein Banner der "Antifa".
Foto: Felix Adler

Die hiesige Uniform tragen Jungs ebenso wie Mädchen, sie besteht aus kurzgeschnittenem Haar und schwarzem T-Shirt. Die Abkürzung "CNN/WTZ" lässt sich leicht dechiffrieren. Manche tragen die gereckte Faust auf der Brust, oder man schmückt sein Textil mit konditionalen Behauptungen: "No Wummen No Cry". An den Hausfassaden steht neonfarben: "Fluffy"; oder der Block der "Ultras" von "Chemie Leipzig" stimmt Vorüberflanierende auf die Klubfarben Grün-Weiß ein. Der Buchstabencode "BSG" steht für "Betriebssportgemeinschaft". Der Klub spielt aktuell in der vierten Liga und ist damit um Klassen besser als sein anarchistischer Ableger "Roter Stern Connewitz".

Subkultur und Bürgertum

Die Connewitzer Gemengelage gleicht einem Sammelsurium. Gebildet wird es aus gelebter Subkultur und postsozialistischem Gemeinschaftsgefühl. Autonomie meint hierorts, nach 16 Jahren Merkel: Wir sind ein bisschen antifaschistischer als der Rest der Welt, und wir sind stolz darauf! Wäre Connewitz tatsächlich ein Mensch aus Fleisch und Blut (der Bezirk zählt etwas weniger als 20.000 Einwohner), er würde vielleicht "Die Linken" wählen. Aber sicher ist das nicht. Weshalb die CDU in den bürgerlichen Ecken auf ein respektables Ergebnis kommt.

Mit Hausbesetzungen in einst unsanierten Häusern wurde die alternative Szene nach 1989 weithin berühmt. Nach Abklingen der heroischen Hausbesetzerphase, nach unschönen Handgreiflichkeiten zwischen "Szene" und Ordnungsmacht, fand das Zwischennutzungskonzept "Wächterhäuser" breiten Anklang. Dessen Konzept besagt: Bewohner dürfen, solange der Eigentümer mit Sanierungen säumig ist, die Immobilie auf Basis einer kulanten Miete bewohnen. Aus solchen Verhältnissen erwachsen häufig genug Formen genossenschaftlichen Wohnens. Selbstmieter-Initiativen erwerben Eigentum. Aber auch SPD-Politiker Holger Mann weiß: Leerstand wird planmäßig erzeugt. Durch die Hintertür sickern internationale Kapitalgesellschaften in den Leipziger Süden ein: "Hausbesetzungen, wie sie bei uns vorkommen, enthalten immer einen Hinweis auf Missstände!"

Holger Mann, Vorsitzender der SPD in Leipzig.
Foto: Felix Adler

Wäre Connewitz also ein Mensch, ein womöglich etwas kauziger Bürger des Freistaates Sachsen, er wäre jedenfalls unbescholten: "Connewitz ist der Stadtteil mit der geringsten Kriminalität, das würde man zunächst nicht vermuten!" Holger Mann glaubt, dass die Bilder von randalierenden Autonomen zwischen kokelnden Tonnen "völlig überzeichnet und symbolisch überhöht" seien. Er verweist auf Slogans wie "Leipzig – eine Stadt für alle". Familien würden sich hier ansiedeln, weil die Tarifabschlüsse immer besser würden. Die Haushaltseinkommen steigen allmählich auf West-Niveau.

"Schön is anders!"

Tatsächlich datieren die heftigsten öffentlichen Auseinandersetzungen auf das Jahr 2016 zurück: als Angehörige der AfD angemeldet durch den Süden zogen und daraufhin unfreundlich bis handgreiflich begrüßt wurden. Noch heute kleben an aufgelassenen Geschäften Zettel mit Verhaltens-Codices: Was man konspirativ zu tun habe, wenn der Verfassungsschutz ausschwärmt – die Festplatten löschen. Seltsamerweise werden von anonym bleibenden Expressionisten auch biedere Matratzen-Läden ("Wir bereiten individuellen Schlafkomfort!") mit bunten Riesenlettern zugesprayt. Fragt man die Inhaber nach einem Grund für so viel ausgesprühten Doseninhalt, erntet man Ratlosigkeit: "Wir wissen auch nicht ... Das ist jetzt schon das dritte Mal hintereinander!" Und: "Schön is’ was anderes!" Die Entfernung der Zyklopenschrift bedarf der kostspieligen Hinzuziehung professioneller Reinigungsdienstleister. Ökologisch ergibt das alles wenig Sinn. Die Betroffenen lächeln säuerlich. Petra Elias (CDU) sagt: "Dabei veranstaltet die Stadt Graffiti-Workshops. Damit wohl schon die Kiddies lernen, wie’s geht!"

Eine zugesprayte Fassade neben der anderen.
Foto: Felix Adler

Heute besucht man – als nicht nur queere Persönlichkeit – vielleicht lieber den "Frauenstammtisch 60 plus" im Connewitzer Werk2, dem lokalen Kultureinrichtungscluster. Oder man begibt sich alternativ-wissensdurstig auf die Spuren von "Hexen" in Leipzig. Oder man sammelt ein bisschen Kleingeld für "zwei Genossen", die sich laut inoffizieller Bekanntmachung wiederholt vor dem Amtsgericht verantworten müssen. Der Grund: Sie hätten anno 2019 einem mutmaßlichen Neonazi in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Buchenwald eine "Thor-Steinar-Gürteltasche" abgenommen.

Somit ist, rund einen Monat vor der anstehenden Bundestagswahl, sonnenklar: Wäre Connewitz ein Mensch aus Fleisch und Blut, er wäre eines mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – glühender Antifaschist. Und das ist nicht das Verächtlichste, was man einem antibourgeoisen Subjekt nach 16 Jahren Kanzlerschaft Merkel nachsagen kann.(Ronald Pohl, 9.9.2021)