Heute ist Berlin Start-up-Hauptstadt. Mittlerweile kommt auch hier das große Geld aus den USA und China.

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Der Weg zum neuen Berliner Geld führt über einen alten Hinterhof. Dort, wo sich die Bezirke Kreuzberg und Neukölln ganz nahe sind, wurde 1945, gleich nach dem Krieg, die Berliner Zeitung gedruckt.

Mit Papier hat man es hier heute nicht mehr so. Im Gegenteil. Das Insurtech Wefox bietet eine digitale Plattform für alle Prozesse um Versicherungen. Und zwar so erfolgreich, dass da in der Nähe von Imbissbuden und Ein-Euro-Läden ein wirtschaftliches Schwergewicht seinen Sitz hat. Bei Investoren hat das 2014 gegründete Start-up kürzlich 533 Millionen Euro eingesammelt, es wird mit 2,5 Milliarden Euro bewertet.

Wenn Gründer und Chef Julian Teicke vorbei an den vielen Zimmerpflanzen in weißen Kisten und an großen grauen Sitzpolstern in ein kleines Besprechungszimmer geht, dann sieht er von dort aus im Hof Stapel von Bierkisten, den Hinterausgang von Karstadt und eine kleine Bar mit Holzterrasse und Pflanzen. Der Charme von Berlin eben, der – wie viele Gründer überzeugt sind – auch zum Erfolg der jungen Unternehmen beiträgt.

"Ich habe auch in Zürich gelebt. Dort passt alles, aber es ist sehr saturiert. In Berlin gibt es Disruption und Spannung, daraus kann etwas Neues entstehen", sagt Teicke. Warum die deutsche Hauptstadt ein so guter Nährboden für Start-ups ist, beschreibt er so: "Es ist im Vergleich zu anderen Städten bezahlbar. Und hier leben viele kreative Leute aus aller Welt, die immer wieder neue Talente anziehen."

Dass aus Berlin "wirkliche Innovationen" kommen, das wüssten auch die Investoren. "Früher", so Teicke, "haben die Chinesen in China investiert und die Amerikaner in den USA. Heute investieren Chinesen und Amerikaner verstärkt in Berlin."

Auf deutsche Start-ups ging im ersten Halbjahr 2021 ein wahrer Geldregen nieder. Sie erhielten die Rekordsumme von 7,6 Milliarden Euro an Investitionen, wie die Beratungsgesellschaft EY für ihr halbjährliches Start-up-Barometer errechnet hat.

Wefox-Chef Julian Teicke kann sich keine andere Stadt als Berlin für sein Unternehmen vorstellen. Es gebe hier so viele kreative Menschen, die wiederum andere anziehen. Mittlerweile wüssten das auch Kapitalgeber sehr zu schätzen und investieren kräftig in Berlin.
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Wahnwitzige Summen

Besonders abgeräumt hat man in Berlin. Das Investitionsvolumen hat sich von 1,2 auf 4,1 Milliarden Euro mehr als verdreifacht. "In Berlin werden wahnsinnige Summen bewegt. Aufgrund der Null-Zins-Politik ist die Liquidität sehr hoch, Anleger suchen nach attraktiven Möglichkeiten", erklärt Thomas Prüver von EY den Boom. Frankfurt, die traditionelle Stadt des Geldes in Deutschland, hat das Nachsehen. Denn, so Prüver: "Die Fintech-Unternehmen in Berlin brauchen die Nähe zu traditionellen Banken gar nicht mehr."

Auch er sagt: "Berlin ist voll von gut ausgebildeten Talenten, die eine Zeitlang in Europa leben wollen. Es herrscht hier eine freiheitliche Kultur, das ist ein Treiber für Berlin."

Klaus Wowereit war von 2001 bis 2014 Bürgermeister von Berlin. Von ihm sind vor allem zwei Sätze in Erinnerung: "Ich bin schwul, und das ist auch gut so", lautet der eine. Der andere, den er erstmals 2003 ausgerechnet dem Magazin Focus Money sagte, wurde zum Werbeslogan für die ganze Stadt: "Berlin ist arm, aber sexy."

Das klang frech und frisch, barg aber sehr viel historische Wahrheit in fünf Worten. Der Zusammenbruch der DDR im Jahr 1989 hatte auch einen Crash der hochsubventionierten, bescheidenen Wirtschaft in West- und Ostberlin zur Folge. Hunderttausende Arbeitsplätze fielen weg. Dafür gab es, was andere Metropolen längst nicht mehr zu bieten hatten: billige Wohnungen, billige Gewerbeeinheiten, Brachen und Platz en masse.

Drei Brüder als Pioniere

Das zog junge Menschen aus aller Welt an. Ihre Anfänge erlebte die Berliner Start-up-Szene um die Jahrtausendwende. Da gründeten die Brüder Marc, Oliver und Alexander Samwer das Internet-Aktionshaus Alando und den Klingeltonanbieter Jamba. Ab 2007 unterstützten sie mit Rocket Internet andere Start-ups. Auch Rocket Internet entstand in Berlin.

Noch heute ist die Sogwirkung der deutschen Hauptstadt ungebrochen. "Wir haben Trade Republic in München gegründet, dann aber gemerkt, dass wir in Berlin die deutlich besseren Rahmenbedingungen haben. Dieses spezielle Ökosystem für Gründer findet man nur in Berlin. Leute aus den USA oder Asien wollen vor allem dorthin, erst recht nach dem Brexit", sagt Christian Hecker. Er ist Mitbegründer und CEO von Trade Republic. Der Onlinebroker ermöglicht per App Handel von Wertpapieren und Kryptowährungen. 400 Mitarbeiter beschäftigt Trade Republic in Berlin. "Man kann es sich nicht erlauben, nicht in Berlin zu sein", meint Hecker. Auch Trade Republic hat im Frühjahr 700 Millionen Euro bei Investoren eingesammelt.

Das sind Summen, von denen andere Gründer nur träumen können. "Wir haben in Berlin eine Vielzahl von aussichtsreichen Start-ups, die herausragende Chancen haben, aber bei denen die Geber von Venture-Capital noch nicht Schlange stehen", meint Marco Zeller, Direktor der IBB Ventures, einer Tochterfirma der landeseigenen Investitionsbank Berlin (IBB). Ihnen greift Zeller unter die Arme.

"Wir arbeiten mit Investoren und Business-Angels zusammen und finanzieren kleine Pflänzchen", sagt er, "wenn wir einsteigen, ist das für die Privaten wie ein Qualitätssiegel, denn sie wollen ja auch Geld verdienen."

Namen im Portfolio

Meistens ist IBB Ventures sieben bis zehn Jahre dabei. Im Portfolio findet man große Namen wie die Sprachlern-App Babbel oder Blinkist, eine App, die die Kernaussagen von Sachbüchern auf den Punkt bringt.

Zeller und sein Team können aus vielen Bewerbern auswählen: "Bei 100 Projekten sind fünf dabei, denen man es zutraut", sagt er. Danach schaffen es von zehn Unternehmen zwei nicht, sechs laufen gut, und zwei haben richtigen Erfolg.

Auch Sofie Quidenus-Wahlforss bekam nebst 20 Millionen Euro von privaten Investoren 1,2 Millionen Euro von der IBB. Die Wienerin ist Mitgründerin und CEO von Omnius, wo künstliche Intelligenz bei der Automatisierung von Schadensabwicklungen für Versicherungen eingesetzt wird.

Die Wienerin Sofie Quidenus-Wahlforss ist Mitbegründerin und Chefin von Omnius. Sie lobt die Förderungen in Berlin und fühlt sich hier als vollwertige Wirtschaftskraft. Auch sie ist froh über den Kreativ-pool in Berlin.
Foto: Viktoria Nikolova

"In Berlin ist die Förderlandschaft sehr großzügig", sagt die 38-Jährige, die von Forbes als eine der "50 Women in Tech Europe" gekürt wurde. Sie kam 2014 nach Berlin und schwärmt: "Man ist hier als Gründerin eine Wirtschaftskraft, es wird einem der rote Teppich ausgerollt. Das war in Wien anders."

Alles rosarot also in Boomtown Berlin? Nicht nur. Bei allem Lob, Julian Teicke von Wefox warnt auch: "Viele in der deutschen Politik haben noch nicht begriffen, dass Start-ups und Fintechs die Zukunft sind. Sie glauben, sich immer noch auf den Lorbeeren von VW und Siemens ausruhen zu können."

Dabei beschäftigen Berliner Start-ups im Schnitt 32,7 Personen, fast 20 mehr als im deutschen Durchschnitt. Teicke fordert eine "andere Kultur für Gründer". So solle die Beteiligung von Mitarbeitern am Unternehmen erleichtert werden.

Mit "arm, aber sexy" stimmt das übrigens in Berlin in einem Punkt nicht mehr. Die Gewerbemieten haben deutlich angezogen. Wefox hat vor fünf Jahren zwölf Euro pro Quadratmeter bezahlt. Jetzt sind es 28 Euro.

Kreativität im öffentlichen Raum à la Connewitz: In Leipzigs schillerndem Südbezirk hält man nicht nur die Erinnerung an alte, linke Helden wach. Man lebt strikt antifaschistisch – und mit dem Rücken zu Restdeutschland. (Birgit Baumann, 11.9.2021)