Wenn Deutschland und Frankreich einen Schnupfen haben, müssen die Partner aufpassen, dass sie keine Lungenentzündung kriegen. Das ist eine alte EU-Weisheit. Sobald die Regierungen in Paris und Berlin uneinig und/oder abgelenkt sind, der deutsch-französische Motor nicht voll läuft, wird die Entscheidungsfähigkeit auf gesamteuropäischer Ebene reduziert.

Nun sind deren Beziehungen im Ausklingen der Kanzlerschaft Angela Merkels zwar intakt. Aber zur Bundestagswahl in drei Wochen kommt diesmal ein ganz spezieller Effekt dazu: Nur acht Monate später, im Mai 2022, muss sich Präsident Emmanuel Macron dem Wahlvolk stellen. Ob er wiedergewählt wird oder ob nach dem Liberalen Macron, dessen sozialistischem Vorgänger François Hollande und dem Konservativen Nicolas Sarkozy wieder eine andere, neue politische Linie folgt, steht in den Sternen.

Die Kanzlerschaft Angela Merkels klingt aus und Präsident Emmanuel Macron muss sich dem Wahlvolk stellen.
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In Deutschland zeichnet sich ab, dass die Regierungsbildung kompliziert wird, weil die Parteienlandschaft so zersplittert ist, dass sich ein einfaches Zweierbündnis nicht ausgehen dürfte. Ob der CDU-Mann Armin Laschet oder SPD-Finanzminister Olaf Scholz es zum Kanzler schafft, traut sich im Moment niemand zu sagen. Vielleicht gelingt sogar der pannenbehafteten Kandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, doch noch der große Sprung ins Kanzlerinnenamt.

Innereuropäische Probleme

Diese Unsicherheit bremst alle: die EU-Partner, die Kommission und das Parlament. In einer solchen Zwischenzeit sind große Entscheidungen kaum zu erwarten. Das ist angesichts der unsicheren Weltlage und der zunehmenden innereuropäischen Probleme besonders ungünstig. Was Deutschland betrifft, lässt sich bereits sagen: Egal wer von den drei Kandidaten es an die Regierungsspitze schafft – alle drei werden verlässliche EU-Partner sein. Sie sind überzeugte Europäer und stehen zur Integration. Es wird keine Experimente mit den Rechtsextremen der AfD geben. Das ist ja schon was. Mit der Linkspartei? Unklar.

Umso wichtiger wird sein, welche konkrete Politik eine neue deutsche Regierung auf europäischer Ebene einschlagen wird. Der Sommer 2021 zeigte auf erschreckende Weise, wie bedrohlich die Konflikte und Probleme sind, wie verletzbar das gemeinsame Europa. Das Desaster in Afghanistan hat die gesamte westliche Welt mit den USA als humanitäre Versager bloßgestellt. Die Europäer, die bei Werten und Demokratie den Mund vollnehmen, ganz besonders.

Die Corona-Krise haben die Europäer letztlich doch noch gut hingekriegt. Aber die Unsicherheit bleibt. Und die Wirtschaftskrise, die durch die Pandemie neu ausgelöst wurde, muss nun erst einmal aufgelöst werden.

Dazu kommt, was sich zuletzt beim Forum Alpbach eindrucksvoll abbildete: Der Kampf gegen die Folgen des Klimawandels duldet keinen Aufschub mehr. Europa, die 27 EU-Staaten müssen dabei Vollgas geben, um den Wandel von Gesellschaft und Industrie zu erleichtern, ebenso bei der Digitalisierung.

Das und noch viel mehr, Migrations- und Asylpolitik etwa, kann nicht mehr von einzelnen Staaten bewältigt werden. So wie bei der Schaffung von Binnenmarkt und Währungsunion in den 1980er-Jahren braucht es im gemeinsamen Europa umgehend einen größeren Ruck, mehr Dynamik als unter Merkel, die EU-politisch auf Sicht fuhr. Deshalb ist die Wahl so spannend für alle in Europa. (Thomas Mayer, 4.9.2021)