Das Panjshir-Tal ist die einzige Provinz Afghanistans, die nicht von den Taliban eingenommen worden ist.

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Kabul/Washington – Der Widerstand in Afghanistan gegen die Taliban wächst. Wie erfolgreich er ist, darüber lagen am Sonntagabend aber unterschiedliche Angaben vor. Offensichtlich drangen die Taliban weiter in das Panjshir-Tal vor. Die italienische Hilfsorganisation Emergency, die ein Krankenhaus und eine Geburtenstation im Tal betreibt, teilte auf Twitter mit, dass die Islamisten das Dorf Anabah, rund 30 Minuten von der Provinzhauptstadt Basarak entfernt, erreicht hätten. Die Islamisten erklärten am Sonntag, sechs der sieben Bezirke seien bereits unter ihrer Kontrolle.

Vertreter der Widerstandskämpfer gaben dagegen am Sonntag an, der Bezirk Parjan am Talende sei vollständig von Taliban-Kämpfern befreit worden. Am Eingang zum Tal seien Taliban nach der Sprengung eines Teils eines Berges eingekesselt. Rund 1.000 Angreifer seien getötet oder gefangen genommen worden.

Ein aus der Provinz stammender bisheriger Parlamentarier, Sal Mohammed Salmai Noori, sagte, es gebe Gefechte in Parjan und in Shutul – ein Bezirk, der am Talanfang liegt. Alles dazwischen sei unter Kontrolle des Widerstands. Ahmed Massoud, Anführer der "Nationalen Widerstandsfront Afghanistans", sagte am Sonntag, dass er zu Verhandlungen mit den Taliban bereit sei, um die Kämpfe zu beenden. Dem Widerstand nahestehende Twitter-Konten berichteten von schwierigen Gefechten und fehlenden Ressourcen. Bereits in der Vergangenheit hatte Massoud andere Länder dazu aufgerufen, den Widerstand zu unterstützen.

Ex-Polizistin getötet

Indes sollen Taliban-Kämpfer Berichten zufolge eine ehemalige Polizistin in der zentralafghanischen Provinz Ghor getötet haben. Negarah, die vor der Machtübernahme der Islamisten ihren Dienst in einem Gefängnis in der Provinz verrichtet haben soll, sei in der Nacht am Samstag vor den Augen ihres Ehemannes und Sohnes von Taliban getötet worden, sagte Hassan Hakimi, ein aus Ghor stammender Aktivist der Deutschen Presse-Agentur am Sonntag. Die Frau sei zudem schwanger gewesen. Zwei ehemalige Beamte der Provinz, die namentlich nicht genannt werden wollten, bestätigten den Vorfall. Hakimi kritisierte die Taliban, weil sie eine versprochene Generalamnestie nicht einhalten. Er sagte, ihre Taten widersprächen ihren Worten. Vonseiten der Taliban gab es zunächst keinen Kommentar zu dem Vorfall.

Frauendemo in Kabul

Videos von lokalen TV-Sendern und Aktivistinnen zeigen zudem, wie am Samstag in Kabul Dutzende schwer bewaffnete Taliban-Sicherheitskräfte mehrere Frauen umzingeln. Viele halten sich ihr Kopftuch vors Gesicht und husten. Andere liefern sich Schreiduelle mit den Taliban. Die Videos konnten zunächst nicht unabhängig verifiziert werden. Eine Teilnehmerin sagte der "New York Times", die Taliban hätten versucht, die Teilnehmerinnen mit Tränengas, Gewehrkolben und Metallknüppeln oder Werkzeugen auseinanderzutreiben. Sie sagte weiter, sie habe mit fünf Stichen am Kopf genäht werden müssen, nachdem sie mit einem scharfen Metallgegenstand bewusstlos geschlagen worden sei.

Während des Taliban-Regimes zwischen 1996 und 2001 durften Frauen in Afghanistan nicht mehr arbeiten und nur noch verschleiert in Begleitung eines männlichen Familienmitglieds das Haus verlassen. Mädchen wurden auch vom Schulunterricht ausgeschlossen. Viele Frauen befürchten seit der erneuten Machtübernahme der Islamisten, dass diese wieder ähnliche Regeln für sie einführen werden.

US-General warnt vor militanten Gruppen

Wann die Taliban ihre Regierung vorstellen werden, ist indes weiter unklar. Es gibt Berichte, denen zufolge die Taliban-Führung erst die Panjshir-Frage gelöst haben will. Beobachter berichten aber auch von internen Querelen und Postengeschacher.

US-General Mark Milley warnt vor einem Bürgerkrieg in Afghanistan
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Der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte, General Mark Milley, warnte vor einem Bürgerkrieg in Afghanistan. "Ich weiß nicht, ob die Taliban in der Lage sein werden, ihre Macht zu konsolidieren und eine Regierung aufzubauen", sagte Milley in einem Gespräch mit dem TV-Sender "Fox News". Dies könne in den nächsten drei Jahren zu einer Neukonstituierung von Al-Kaida oder einer Erstarkung der Extremistenmiliz Islamischer Staat (IS) führen. Dazu gebe es unzählige andere militanten Gruppen in Afghanistan, führte Milley in dem auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Deutschland geführten Gespräch aus.

Merkel für Gespräche mit Taliban

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich unterdessen für Kontakte mit den Taliban ausgesprochen: "Wir müssen mit den Taliban darüber sprechen, wie wir weiter Menschen, die für Deutschland gearbeitet haben, außer Landes und in Sicherheit bringen können", sagte Merkel bei einem Besuch im nordrhein-westfälischen Hagen. Zudem sollen internationale Hilfsorganisationen auch die humanitäre Situation in Afghanistan verbessern können. Merkel wertete es als "gutes Signal", dass der Kabuler Flughafen wieder anfliegbar sei.

UN-Nothilfekoordinator traf Taliban-Führung in Kabul

Angesichts der drohenden humanitären Katastrophe in Afghanistan hat der Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen, Martin Griffiths, die Taliban-Führung in Kabul getroffen. Laut UN sprach Griffiths am Sonntag mit dem Taliban-Vizechef Mullah Abdul Ghani Baradar, der nach der Machtübernahme der militanten Islamisten als möglicher künftiger Regierungschef des Landes gehandelt wird.

Griffiths bekräftigte den Willen der internationalen Gemeinschaft, Afghanistan mit Hilfsgütern zu versorgen, wie es hieß. Zugleich habe der UN-Diplomat die Taliban dazu aufgerufen, die Rechte von Frauen und Minderheiten zu achten. Die neue Führung in Kabul wiederum versprach den UN zufolge, die Sicherheit aller humanitären Helfer – Männer wie Frauen – zu gewährleisten. (APA, Reuters, red, 5.9.2021)

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