Einer für alle, alle für einen: Der Kanzler biegt in "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!" einmal stoisch um die Ecke.

Foto: Matthias Horn/Burgtheater/APA

Die Pandemie geht weiter, und auch Elfriede Jelineks Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen! hat seit der Uraufführung im Juni in Hamburg (der Standard berichtete) neue Gestalt angenommen. Frank Castorf hat zwar proportional gesehen nur wenige Passagen des 83 Seiten langen Textes für seine Wiener Inszenierung eingetütet, und doch sind Regisseur und Autorin ein verdammt gutes Match. Sie treffen sich mit diebischem Vergnügen im Dschungel missverständlicher Zeichen. Es lässt sich nie mit Sicherheit sagen, was man da sieht. Ist es aber doch entziffert, so hat es sich schon in etwas anderes oder gar ins Gegenteil gewendet.

Auf welchem Dampfer segeln wir da? Auf alle Fälle auf jenem des Odysseus, dessen leidvolle Irrfahrt Jelinek zum Spiegelbild der Pandemie gewählt hat. Den zehnten Gesang von Homers Odyssee, in dem die Zauberin Kirke die halbe Schiffsmannschaft in Schweine verwandelt, baut Castorf genüsslich zum Motto des Abends aus. Er hat seine Inszenierung im Akademietheater – es ist nach 26 Jahren seine zweite Arbeit mit einem Jelinek-Stück – auf Stroh gebettet; sie beginnt mit dem am Sauerstoff hängenden Odysseus (Branko Samarovski), der lungenschwach im Stuhl lehnt und dem Kirke (Andrea Wenzl) die Maske verächtlich ins Gesicht drückt.

Immer im Kreis

Prall gefüllt ist die Bühne von Aleksandar Denić, auf der über Video diverse Schauplätze miteinander verschnitten werden. Denn zusätzlich zur Odyssee schleust Castorf Fahim Amirs kontraromantischen Tierwohltext Schwein und Zeit ein. Und er führt Jelineks Text auch ins verseuchte London (mittels Daniel Defoes fiktiven Pestberichten 1665) sowie über die Gruselgeschichte Die Marter der Hoffnung des Franzosen Auguste Villiers de L’Isle-Adam (1838-1889) nach Saragossa. In dieser Parabel über einen Rabbi, der am Ende seines Ausbruchs aus dem Kerker immer wieder in den Armen des Großinquisitors landet, spiegelt sich ganz klar die heutige Welt der geschlossenen Meinungskreise wider, die Welt der scheinbar unberührbar voneinander getrennten Realitäten, die die Pandemie sichtbar gemacht hat.

Gustostückerl aus dem Universum der Verschwörungsanhänger (Impfung mit Chip-Implantat) folgen auf Erlösungsworte des Bundeskanzlers,. Dieser biegt einmal stoisch um die Ecke, um sich die vielen Kurz-Kalauer, die das Duracell-Volk vulgo "Menschenblock in türkis" an der Rampe zum Besten gibt, einmal aus nächster Nähe anzuschauen. Die selbsterklärte und von Jelinek dechiffrierte Erlöserfigur des Kanzlers bewegt sich in Jesus-haften Koordinaten. Einmal heißt es so schön: "Emmaus liegt 60 Stadthallen von Jerusalem entfernt". Über einem die Bühne dominierenden Maskenkopf thront im Geist der Jünger der Schriftzug "Einer für alle, alle für einen" auf Französisch (Castorfs späte Liebe zu Frankreich).

"Muschifreunde" in Ischgl

Dazwischen taucht immer wieder die Zauberin Kirke auf: Andrea Wenzl wirft Castorf-affin, als wäre sie Kathrin Angerer, betroffen-flehende Blicke in die Kamera. Das Ensemble genießt die Herausforderung, kriegt aber in seinen stadttheatergestählten Sprechweisen die performative Kurve nicht immer. Seitenhiebe darauf leistet sich Castorf auch konkret: Da schwebt Dörte Lyssewski mit Jelinek-Haartolle vergeistigt herein und treibt divenhaft mit hauchender Stimme die Odyssee voran. – Eine Reverenz an den alten Schaubühnen-Stil, der Castorf ein kleines, unterspieltes MeToo-Statement anheftet.

Nach der Pause wird es zünftig: Ischgl. Jelinek studierte für ihre Trigger-Passagen zum Thema Après-Ski die dokumentarischen Fotografien Lois Hechenblaikners. Und auch Castorf nimmt an diesen Abbildungen der pornografischen Gaudi Maß, wenn die "Muschifreunde aus Karlsruhe" auf Alkohol treffen. Wenzl, diesmal als personifizierte Europa im blauen Kleid im Einsatz (ihr werden die gelben Sterne herausgerissen), kippt ein Stamperl nach dem anderen, Marie-Luise Stockinger ertränkt sich mit Bier, Lyssewski peitscht den mit einem Hammer besinnungslos alles klein schlagenden Mehmet Ateşçi zu sich und ihren gespreizten Beinen heran.

Notgeiler Odysseus

Wuchtiger, dichter und inhaltsstärker ist dieser zweite Teil (wie immer bei Castorfs sich anhäufend aufbauenden Abenden), der neben wohlfeilen Witzen (der notgeile Odysseus überlegt bei Kirke noch kurz wegen sozialer Distanz) die dicken Assoziationsketten bündelt. Er endet in einem in seiner Unerbittlichkeit irren Monolog Marcel Heupermans, der, im Schaumstoffkleid einer menschlichen Hand steckend, gewissermaßen verbal zurückschlägt auf das im Schwein symbolisierte kapitalistische Ausbeutungssystem.

Im strohumzäunten Schweinekoben legt er los gegen die – durch Covid überaus kenntlich gewordene – verderbliche Logik des unendlichen Wachstums und die Verlogenheit heutiger reingewaschener Arbeitskultur. Das saß. Castorf hat wieder mal alle rumgekriegt. Langer Applaus. In zwei Wochen folgt sein zweiter Streich: Peter Handkes Zdeněk Adamec im Burgtheater. (Margarete Affenzeller, 5.9.2021)