Das Burgtheater feierte am Sonntagmittag seine Wiedereröffnung nach 307 Schließtagen mit einer Rede der Bachmann-Preisträgerin Nava Ebrahimi. Die Autorin befasste sich mit den Umständen ihrer Rede und prangerte die Abgründe in der Politik an.

Nava Ebrahimi bei ihrer Rede im Wiener Burgtheater.
Foto: APA / Herbert Neubauer

"Zu Beginn ein Bekenntnis, ohne das ich nicht anfangen kann. Der Versuch, diese Rede zu schreiben, hat mir eine schlimme Schreibblockade beschert, eine richtig schlimme Schreibblockade mit Tränen und ewig langen Telefonaten mit Freundinnen und Freunden, ich war kurz davor, meine Therapeutin nach Jahren wieder anzurufen. Ich verfluchte mich mehrmals täglich dafür, diesen Auftrag angenommen zu haben und hätte ich jemanden dafür schlagen können, ich hätte es getan, so verzweifelt war ich an manchen Tagen.

Dennoch habe ich am Ende drei Reden geschrieben, also ich habe mir am Ende, trotz der schlimmsten Schreibblockade meines Lebens, drei Texte abgerungen und auf meinem Laptop abgespeichert, die erste heißt 'Rede_Burgtheater_Wutrede', die zweite 'Rede_Burgtheater_NEU_nett', die dritte 'Rede_Burgtheater_ganz_neuer_Versuch'. Aber ich finde alle drei Mist, alles ist Mist, wie Rainald Goetz es schon sagt, und der muss es wissen, er wohnt ja quasi im Burgtheater. Ich war noch nie hier, meine Eltern waren noch nie hier und meine Verwandten wissen nicht einmal, was das Burgtheater ist, ich habe mich hier quasi nur eingeschlichen. Alles ist Mist, das finde auch ich, ich bleibe unzufrieden, betrachte mich als gescheitert, aber nichtsdestotrotz, am Ende muss etwas herauskommen, und es gäbe ja so viel zu sagen, so viel anzuprangern, anzumahnen, einzufordern, aber das macht es nicht leichter, im Gegenteil, ich finde keine Form für all das, was gesagt gehört.

"Alle großen Gedanken sind mit der Carearbeit auf dem Buckel zusammengeschrumpft, 'von beiden Welten eine musst du wählen', das gilt 200 Jahre später immer noch."

Hinzukommt – ohne, mich herausreden zu wollen –, dass ich gerade viele Wochen Sommerferien hinter mir habe mit den Kindern, und es ist noch nicht vorbei, neun Wochen Sommerferien sind es, aber nein, keine Quarantäne oder Lockdown, diese neun Wochen sind normal, sollen normal sein, und mich kostet das nur Nerven, Zeit und Geld, und ich frage mich, was mit den Kindern ist, die neun Wochen vor der Playstation hocken müssen oder an einem anderen Ort in der Zweizimmerwohnung geparkt werden, weil sie keine rüstigen Großeltern haben, weil sie niemand ins Museum schleppt, weil sie niemand für ein halbes Monatseinkommen zum Einradfahr- oder Münzprägekurs anmeldet. Neun Wochen, bitte, da kann doch auch das Burgtheater nicht dafür sein, im Sinne der Nachwuchsförderung würde ich hier ein klares Dagegen-Agitieren empfehlen.

Also habe ich jetzt Wochen lang Sätze für diese Rede in meinem Kopf gewälzt, während ich Kinder hütete, manche Sätze hielt ich für brillant, andere für doppelbödig, einige sogar für äußerst ansteckend, aber inzwischen sind sie mutiert zu harmloseren Varianten, nicht mehr tödlich, höchstens schnupfentauglich wirken diese Sätze jetzt auf Papier, beziehungsweise im Worddokument, jetzt, da ich mir endlich einmal ein paar Stunden Zeit nehmen kann, um Sätze hinzuschreiben, entsteht nichts, da stehen nur einzelne Sätze, höchstens zwei, einsam in der Gegend herum, Reproduktionsfaktor gleich Null, und das Wetter – die Hitze, die Schwüle, die Gewitter, der Regen – machen mir obendrein zu schaffen, sonst hätte ich mich sicher nicht zu Virusanalogien hinreißen lassen. Alle großen Gedanken sind mit der Carearbeit auf dem Buckel zusammengeschrumpft, 'von beiden Welten eine musst du wählen', das gilt 200 Jahre später immer noch für Dichterinnen und für alle anderen Frauen auch.

"Das Burgtheater ist ja so eine Art Safe Space."

Und dann ziehe ich die Reißleine, ich fliehe vor den Kindern in ihren elendslangen, alles verschlingenden Sommerferien in das Häuschen einer Freundin in die Südsteiermark und dort ist es sehr ruhig bis auf die Rasenmäher, die sich abwechseln, die sich miteinander unterhalten, doch die Rasenmäher wollen wenigstens nichts von mir, niemand will etwas von mir, außer das Burgtheater eine Rede, und jetzt hätte ich alle Zeit zum Schreiben, aber jetzt fällt mir immer noch nichts ein, absolut gar nichts, mein Kopf ist leer, da ist nur noch Geröllwüste, und das Geröll, das herumliegt, sind Kraftausdrücke, mehr fällt mir nicht ein, und ich frage mich, ob ich unter temporärem Tourette leide oder ob mich vielleicht ein spezielles Hochkultur-Tourette befallen hat, weil sehr weit oben darf man sich auch mal daneben benehmen. Und sowieso, Österreicherinnen und Österreicher lieben diesen Trick, je unbeliebter man sich macht, desto beliebter ist man am Ende, so viel habe ich schon mitbekommen, also probiere ich aus, ob das auch für mich gilt, und werfe mich hier jetzt mal in diese Pose. Das Burgtheater ist ja so eine Art Safe Space, da darf vielleicht sogar ich mal auf den Putz hauen, mich ein wenig auskotzen, ein Risiko ohne Risiken eingehen, so ist das doch?

Für Beschimpfungen zu harmlos, finden Sie? Aber für eine Ausländerin schon eher arg, oder?

Originell freischreiben

Mir fällt kein einziger gerader Satz ein, auch weil ich weiß, oder glaube zu wissen, warum ich hier bin, ich bin als Migrantin eingeladen – also nicht nur, aber irgendwie auch – und jetzt erwarten Sie von mir migrantinnenkonformes Zeug, was auch immer das sein mag, aber ich soll mich auf jeden Fall marginalisieren und der Politik, dem Patriachat, der Mehrheits-, nein, der Dominanzgesellschaft den Spiegel vorhalten. Meine Rolle ist vorgeschrieben in gewisser Weise, ich soll mehr als zwei Jahrhunderte männliche Herrschaft in diesem Haus wettmachen, mehr als zwei Jahrhunderte männliche Intendanz, männliche Autoren-, Dramaturgen-Regisseurenschaft, weiß größtenteils, aber sicher nicht vollständig, denn was hätte das geheißen vor 100 Jahren. Aber deshalb, ganz klar, diese Blockade in mir, mehr als zwei Jahrhunderte Burgtheater, Jahrhunderte weißer Männer, hier noch sehr lebendig, lasten auf mir und ich soll meine Rolle spielen, mich aber zugleich originell freischreiben, soll mich wegschreiben von den weißen Männern und damit auch irgendwie mithelfen, das Burgtheater hinzuschreiben auf einen neuen Weg.

Wir stehen auf den Schultern von Giganten, bitte, soll das ein Witz sein? Die Giganten stehen auf mir! Sie plätten mich, machen mich mundtot, blicken aus ihren missgünstigen Augen zu mir herab.

Ok, ok, ich sollte vielleicht besser nichts mehr sagen und Ihnen 20 Minuten Stille präsentieren, aber selbst das ist nicht mehr originell, andererseits; alles, was ich bis jetzt geschafft habe, ist die Lehrergewerkschaft gegen mich aufzubringen, und das ist wirklich das Allerunoriginellste auf der Welt. Aber wie soll ich unter solchen Bedingungen irgendetwas sagen, etwas halbwegs Gescheites? Was ist überhaupt noch gescheit, wer ist überhaupt noch gescheit, ich habe da gerade ein wenig das Vertrauen verloren, wenn nicht einmal alle Nato-Länder-Geheimdienste zusammen voraussagen konnten, dass die Taliban zwischen zwei Mittagspausen Kabul einnehmen werden. Und wenn die Geheimdienste doch so gescheit waren und es gewusst haben und nur vorgeben, es nicht gewusst zu haben, dann ist alles noch viel schlimmer, das möchte ich gar nicht glauben.

Schon einmal gehört

Ich misstraue allen, allem und vor allem mir selbst und meinem gefühlt Halbgedachten, das ich behelfsmäßig in Wörter und Worte packe, denen ich leer schon misstraue. Ich kann nichts Richtiges sagen, nichts, aber ich kann unendlich viel Falsches sagen. Verstörendes, Verletzendes, Retraumatisierendes. Ich wundere mich über jede und jeden, der noch an ein Pult treten und ein Wort herausbringen kann. Fällt ihnen nicht auf, dass alles schon unendlich oft gesagt wurde? Die Rede, die Navid Kermani vor 16 Jahren zum 50. Jubiläum der Wiedereröffnung des Burgtheaters gehalten hat, hätte ich heute wieder halten können, ich hätte nur ein paar Dinge ändern müssen, zum Beispiel Straße von Gibraltar gegen Ägäis austauschen und so, oder nein, auch die Straße von Gibraltar bleibt ein Massengrab im Mittelmeer, es sind nur neue hinzugekommen, die Ägäis zum Beispiel.

Stimmt, ich hätte einfach die Rede von Navid Kermani noch einmal halten können, auf diese Idee bin ich gar nicht gekommen, aber die Rede ist immer noch genau so aktuell wie vor 16 Jahren, noch aktueller eigentlich, und keine und keiner hätten bemerkt, dass sie die Rede schon einmal gehört haben, sogar unsere Namen klingen zum Verwechseln ähnlich, das wäre das perfekte Verbrechen gewesen, das perfekte Verbrechen mit der Vergeblichkeit. Und sogar das Zitat von Stefan Zweig von 1932, das Navid Kermani in seiner Rede bringt, sogar das klingt eins zu eins wie von heute, genau das, was Zweig vor 100 Jahren über Europa sagte, könnte, zum Beispiel, Michael Köhlmeier sagen an einem Rednerpult morgen und alle würden denken; brandaktuell. Und sie hätten recht. Und dennoch, wir haben uns an all das gewöhnt, nehmen die alten und die neuen Massengräber hin, dagegen helfen auch noch so viele Reden nichts, seien sie noch so geschliffen und noch so wenig falsch wie möglich.

"Die Schlagbäume und die Nationalismen sind zurück."

Nein, stopp, ich hätte noch etwas ändern müssen an Navid Kermanis Rede, er konnte sich damals, 2005, wenigstens an den offenen Grenzen zwischen Nordkap und Tarifa ergötzen, selbst, wer die Rede nur liest, liest die körperliche Freude über den Triumph heraus, eine fast ungläubige Freude über 5931 grenzenlose Kilometer, immerhin, auch, wenn die Grenzen, die dann kommen, die EU-Außengrenzen tödlich sind. Doch selbst das ist vorbei, selbst das ist schlimmer geworden, die Schlagbäume und die Nationalismen innerhalb dieser 5931 Kilometer sind zurück, vermutlich waren sie aus den Köpfen nie weg, aber sehen Sie, genau das meine ich; jeder Satz erfordert einen Nachsatz, um etwas weniger falsch zu werden, und so hört es nie auf und so scheint sich alles in Beliebigkeit zu verlieren. Die Beliebigkeit endet bei der Menschenwürde, bei den Menschenrechten, dort ist Schluss, das ist der Grenzstein jeder Argumentation, denn dahinter lauert der Abgrund, so schien es bisher gewesen zu sein, es gaben sich bisher zumindest alle Mühe, so zu tun als ob, auch wenn viele von uns schon länger den Verdacht hegen, dass Menschenrechte ein Privileg sind, und das bestätigte sich nun in Kabul wieder einmal, mit einer Drastik wie selten zuvor, wir sehen dabei zu, wie Hunde und Katzen evakuiert, während Afghaninnen und Afghanen zurückgelassen, teilweise dem sicheren Tod ausgesetzt werden. Kurz und Nehammer haben anscheinend jede Scham verloren, schüren mit ihren Aussagen Rassismus, absichtsvoll oder nicht macht im Ergebnis keinen Unterschied, sie erklären die Menschenrechtskonvention für hinfällig und damit das Recht auf Asyl zu einer Gnade. Die Botschaft, die bei vielen, vielen Menschen mit Migrationsgeschichte in Österreich ankommt, und auch bei mir, wenn ich in mich hineinhorche:

Ihr habt es zwar hierhergeschafft, trotz aller Steine, die wir euch in den Weg gelegt haben, also bleibt halt, aber noch mehr von euch wollen wir nicht! No way! Da verkaufen wir lieber die Menschenrechte und alle Ideale der Aufklärung, derer wir uns sonst so gerne rühmen. Wenn ich Österreich sage, meine ich Deutschland mit, obwohl es dort nicht ganz so schlimm ist oder vielleicht trügt der Schein nur. Schockierend jedoch auch dort, dass Rassismus und Ausgrenzung, gipfelnd im rechten Terror, in Hanau und NSU, in diesem Wahlkampf kaum eine Rolle spielen, obwohl so viele Menschen in Deutschland tagtäglich darunter leiden, ihnen im besten Fall Chancen verwehrt, im schlechtesten Fall Leben vernichtet werden. Und das passiert immer noch und weiterhin, auch wenn Sie vielleicht das Gefühl haben und darunter leiden, nicht mehr alles sagen zu dürfen.

Neue Dimension

Ich weiß, das ist so eine Art erweiterte Egozentrik, zu glauben, die Zeit, in der wir leben, sei besonders schlimm, global gesehen natürlich, wie können wir nicht mehr global sehen?

Alle Zeiten sind gleich schlimm, aber manche Zeiten sind schlimmer.

Menschen, die sich an startenden Flugzeugen festklammern, weil sie überleben wollen – das, glaube ich, ist eine neue Dimension. Das zusätzlich zum alltäglichen Hintergrundrauschen aus Hungersnöten, Überflutungen, Waldbränden, Elendslagern an den Rändern der EU, Menschen, die erschossen werden, weil sie für Freiheit und Demokratie auf die Straßen gehen oder einfach nur, weil sie durstig und hungrig sind, Menschen, die schon die dritte Impfung bekommen, während für viele Menschen im globalen Süden die erste unerreichbar ist. Wie soll das einen, wie soll mich das nicht sprachlos machen, wie soll mich das nicht zerreißen, sagen Sie mir das bitte.

Wenn ich Sie sage, dann meine ich übrigens gar nicht immer Sie, ich meine oft mich, ich nehme Sie nur her, damit es nicht so wirkt, als führe ich Selbstgespräche. Und manchmal sage ich auch Wir, obwohl ich mehr Sie meine, aber 100-prozentig bin ich mir da nicht immer sicher.

"Weiße sind mobil, Nicht-Weiße fliehen."

Falls ich Ihre Aufmerksamkeit jetzt mit meiner Aufzählung des Grauens verloren haben, gewinne ich Sie vielleicht wieder zurück, indem ich Sie mitnehme in die Südsteiermark, Ihnen erzähle, dass ich Erbsensuppe und Makrelenfilets esse in dem Häuschen der Freundin, in meinem Refugium, in das ich geflohen bin vor den Kindern in ihren elendslangen Sommerferien. Die Südsteiermark, ein Phänomen, das Land, in dem Muskateller und Kernöl fließen, es ist so schön, so friedlich, der Wein wächst, die Feigen reifen, die Äpfel prallen, und ich frage mich, wie man in dieser Idylle leben kann, wie man das aushalten kann, wie einem diese Idylle nicht falsch vorkommen kann, wenn man abends über die Hauptnachrichten ins Wohnzimmer hereingesendet bekommt, was alles passiert auf der Welt, nun gut, die ZiB sendet das nur in sehr verdaulichen Happen, aber immerhin ein bisschen was bekommt man mit, und ich spaziere nach Erbsensuppe und Makrelenfilets einen Weg entlang, der gleichzeitig Straße ist, auf denen sich am Wochenende die Porsche und BMW aus Wien und München reihen, aber unter der Woche niemand, und da sitzt ein älteres Ehepaar auf einer Bank vor einem Haus, das streitet, das kann ich hören, und ich will kehrtmachen, aber sie sieht mich durch die Fliederbüsche hindurch, springt auf und bietet mir ein Gläschen Wein an und ich schließe sie sogleich in mein Herz, vielleicht auch, weil sie hörbar, jedoch nicht erwartbar nicht von hier ist – oder nicht von da, und ihn mag ich auch, und so trinken wir Wein und ich stelle drei Fragen und bin schon bei einer Fluchtgeschichte, die 61 Jahre zurückliegt, aber die ersten Tränen fließen, als wäre es gestern gewesen. Sie wischt sie sich aus dem Gesicht und ich frage ihn, und da ist auch eine Fluchtgeschichte, aber mit anderen Vorzeichen, weil er in Österreich wenig verdiente und woanders viel mehr verdienen konnte. Ist das Wirtschaftsflucht oder Mobilität, das kann ich gerade nicht sagen, oder doch: Weiße sind mobil, Nicht-Weiße fliehen, beziehungsweise wer mobil ist, um zu überleben, ist auf der Flucht, und Flucht ist Dreck. Mobilität – toll, Flucht – Dreck, da können und müssen wir leider eine sehr klare Trennlinie ziehen.

"Die eigene Brieftasche war ihnen dann doch näher als die Freiheit der anderen."

Der Wein ist selbst gewinzert und sehr gut, und ich vergesse für einen Augenblick die Rede und die Welt, das kann sie ganz prima, die Südsteiermark, ich verstehe schon, warum sich hierhin so viele zurückziehen, obwohl – die Brettljause kostet mitunter schon zehn Euro! Das erinnert mich an Anna und Otto, ein anderes älteres Ehepaar, so hießen sie wirklich, meine schwäbischen Vermieter während eines Praktikums, die mir vor 20 Jahren sagten, sie wünschten sich, die Mauer würde wieder hochgezogen werden, weil die Ossis die Preise am Balaton kaputt gemacht hätten. Die eigene Brieftasche war ihnen dann doch näher als die Freiheit der anderen, daran muss ich denken, als ich die Preise in der Buschnschank sehe, auch für die Preise in der Südsteiermark wäre das Wiederzuziehen des Eisernen Vorhangs vorteilhaft, zumindest aus Sicht der Konsumentinnen und Konsumenten, denn dann wäre die Südsteiermark wieder das Ende der westlichen Welt und die Brettljause wieder zum Preis einer Tiefkühlpizza zu haben. Und, ein weiterer Vorteil, die Fronten wären wieder so schön klar, die Welt, zumindest aus Sicht der Westlerinnen und Westler, wieder etwas übersichtlicher.

Aber man kann, ich kann die Zeit nicht zurückdrehen, die Mauer ist weg, die Preise sind gestiegen, die Reallöhne gefallen – ein Nebensatz, der mehr Aufmerksamkeit verdiente und eigentlich bin ich ja Ökonomin, doch leider sitze ich jetzt hier mit einem leichten Kater, vielleicht Histamin, weil der Wein war ausgezeichnet und ich habe nicht viel getrunken, trotzdem habe ich einen Hauch von einem Kopfschmerz, aber vielleicht rührt der daher, dass ich seit Stunden verkrampft vor meinem Laptop hocke und noch immer nicht weiß, was ich schreiben oder gar sagen soll, ich wünschte, ich hätte wenigstens eine Kunstfigur, der ich diese Rede anlasten könnte, aber nein, am Ende bin ich nur ich selbst, und am Ende kann ich nur diese Rede schreiben und keine andere, und alle unter Ihnen fühlen sich bestätigt, die denken, die hat ja eigentlich nichts zu sagen, kommt nicht von Homer, schätzt die Schönheit unserer Sprache nicht, spielt nicht so herrlich selbstvergessen mit ihr herum wie wir es lieben, aber darf trotzdem da vorne stehen, weil sie dunkle Augen hat und in einem dieser Länder geboren ist, in ... na ja, in einem dieser Länder da unten halt, jedenfalls nicht in Norwegen.

"Versuchen Sie doch einfach auch mal eine Rede zu schreiben, bringen Sie alles zu Papier, schämen Sie sich nicht dafür."

Die Schönheit Ihrer Sprache, bei der Gelegenheit, ist mir egal, ich hätte auch jede andere genommen, es ist reiner Zufall, dass ich nicht Englisch oder Schwedisch oder Französisch spreche, ich hätte mir jede andere Sprache zu eigen gemacht für meine Zwecke. Ich hätte auch in anderen Sprachen wunderbar scheitern können, anders halt, als ich auf Deutsch scheitere, aber dennoch.

Das Burgtheater ist freilich einzigartig auf der Welt, eine Rede im Burgtheater vergeigen kann ich nur auf Deutsch. Für meine Großmutter klang Deutsch übrigens so: CheschCheschChesch. Das zur Schönheit Ihrer Sprache.

Ich hoffe, das trifft Sie jetzt nicht persönlich, aber selbst wenn, bitte stehen Sie zu Ihren Gedanken, unterdrücken Sie sie nicht, das macht alles nur noch schlimmer. Stehen Sie zu Ihren Gedanken, lassen Sie sie raus wie einen Schmetterling und schauen Sie, auf welcher Blüte er landet und ob er sie bestäubt oder nicht, oder versuchen Sie doch einfach auch mal eine Rede zu schreiben, bringen Sie alles zu Papier, schämen Sie sich nicht dafür. Aber seien Sie bitte nicht böse auf mich, wenn Sie Ihre Rede im Gegensatz zu mir zu Hause, allein vor dem Spiegel halten müssen, glauben Sie mir, ich würde gerne mal mit Ihnen tauschen und wie Sie im Publikum sitzen mit dem Gefühl: Dass ich hier sitze, das ist die größte Selbstverständlichkeit der Welt und ich habe es mir verdient, womit auch immer, wie auch immer habe ich es mir verdient, dass ich hier sitze und meine Regierung meine Eintrittskarte mit einem Wahnsinnsgeld subventioniert.

Purer Zufall

Die Philosophin Lisa Herzog hat mich darauf gestoßen, dass verdienen und verdienen, to earn und to deserve, im Deutschen dasselbe Wort sind, und deshalb kommen wir da manchmal vielleicht etwas durcheinander, deshalb sind wir vielleicht geneigt zu glauben, dass wir verdienen, was wir verdienen. Dabei haben wir uns das meiste nicht verdient, sondern die wirklich wichtigen Entscheidungen für ein Leben, zu welcher Zeit wir an welchem Ort und vor allem in welche Familie wir hineingeboren wurden, sind purer Zufall, dafür kann niemand von uns etwas. Wir, die allermeisten von uns, vermute ich, sitzen oder stehen hier heute also ohne es uns verdient zu haben, ausgenommen meine Mutter, sie kam als Frau, als Migrantin, als Alleinerziehende vor 40 Jahren nach Deutschland und mit dieser Kombi hat man bis heute die schlechtesten Karten, also sie, lässt sich sagen, hat sich ihren Platz im Burgtheater heute wirklich verdient.

Stellt sich nun natürlich die Frage, was ich für diese Rede verdiene, Geld natürlich, sogar gutes Geld, okayes Geld, wenn ich daran denke, dass dieser Auftrag, diese Rede mich seit zwei Monaten begleitet, im Kopf natürlich nur, ich arbeitete an der Rede, während ich staubsaugte, Wäsche faltete, mit den Kindern auf den Spielplatz ging, Zwangsurlaub machte. Meine Gage, eine Art Quersubventionierung der unbezahlten Carearbeit, eigentlich. Die Rede war immer dabei, sie war always on my mind, wenn auch zugebenermaßen viel zu lange nicht in einem Worddokument, aber was soll's, schließlich werde ich fürs Denken bezahlt und nicht fürs Tippen. Was ich mir für diese Rede noch verdiene, verdiene im moralischen Sinne, das müssen Sie entscheiden.

"Einmal muss ich ausprobieren, wie weit ich gehen darf."

Jetzt rede ich schon so lange in Ihrer Sprache, und habe noch nicht einmal jemanden ordentlich zitiert, nur Goetz, Grillparzer, Tocotronic und Pet Shop Boys so nebenbei wegzitiert und Lisa Herzog erwähnt, aber die ist jung und weiblich und zählt nur halb, jetzt muss unbedingt einmal ein schmuckes Zitat von einer Autorität her, irgendwas zwischen Goethe und Harald Juhnke, also voilà:

'Du weißt nicht, was genug ist, bevor du nicht weißt, was mehr als genug ist.'

Der ist von William Blake und ich will Ihnen damit sagen, dass Sie bitte ein wenig nachsichtig mit mir sein sollen, wenn ich den Bogen hier überspanne, aber einmal muss ich das tun, einmal muss ich ausprobieren, wie weit ich gehen darf, damit ich bei der nächsten Rede Maß halten kann. Ich verlange gar nicht viel von Ihnen, und ich weiß, das ist das Burgtheater, hier gelten die strengsten Maßstäbe in Österreich, dennoch bitte ich Sie, mir gegenüber in etwa so großzügig zu sein wie gegenüber der österreichischen Politik, sich in Ihrem moralischen Urteil ebenso elastisch zu zeigen wie gegenüber österreichischen Politikerinnen und Politikern, mehr erwarte ich gar nicht.

Der 2. November 2020

Sie werfen mir jetzt bestimmt innerlich unter anderem vor, dass es bislang viel zu sehr um mich und um Sie ging – Sie haben recht, das fällt mir auch gerade auf, es sollte um das Burgtheater gehen, das 307 Tage geschlossen hatte, so lang, wie noch nie, nicht einmal während der Weltkriege! Ich sollte Aufbruchstimmung verbreiten, einen Anfang markieren, ich sollte in eleganten Wortwendungen bekräftigen, was Sie ohnehin schon wissen, sonst wären Sie ja nicht hier, nämlich dass wir das Theater brauchen, dass die Gesellschaft Kultur braucht und all das, aber mir fällt gerade nichts dazu ein, nichts, was nicht schon 1000-mal beteuert worden wäre, und da fällt mir etwas ein, oh mein Gott, das hatte ich ganz vergessen, ich hatte den 2. November 2020 vergessen, den letzten Abend im Burgtheater, bevor es schließen musste, der Abend, an dem ein junger Mann im Namen einer Religion in Wien wahllos vier Menschen erschoss, dass das auf einen Tag fiel, eine Dramatik, die könnten wir uns nicht ausdenken und die wollen wir uns auch gar nicht ausdenken, weil diese Dramatik zu stumpf, zu platt, zu zufällig, ganz einfach zu sinnlos wäre.

In den Dramatiken, die wir selbst erschaffen und die wir auf die Bühnen bringen, passiert, was passiert, weil Menschen lieben und eifern, begehren, neiden, gieren und geizen, simulieren, schweigen, irren und reifen, wie Menschen halt sind. Und weil wir diese Dramatiken selbst erschaffen und mit Sinn füllen, so schwer auszumachen er manchmal auch zu sein scheint, haben wir sie in unserer Gewalt, beherrschen wir sie, aber können uns dennoch überwältigen lassen, auf einer Art inneren Probebühne fürs Leben, und vielleicht, ja, weil wir uns auf diese Weise impfen wollen gegen das Unvermeidliche, gegen die schrecklichen Dinge, die passieren werden auf Erden, so lange wir sie bewohnen, und die so oft sinnlos daherkommen, egal, wie sehr wir uns bemühen, einen Sinn zu finden.

"Ein Kosmos, aus einem Satz, in einem Kopf allein."

'Werde so dünn wie ein Haar, aber reiße nicht', das ist ein iranisches Sprichwort, das mein Vater oft zu mir sagte, und ich fragte nie nach, was genau er damit meinte, aber inzwischen habe ich mich auf eine Deutung festgelegt:

Halte die Welt nicht auf Abstand, lass sie an dich heran, geh mit deinem Mitgefühl immer wieder an deine Grenzen, strapaziere dich mit Widersprüchlichkeit – und wenn es droht dich zu zerreißen, erinnere dich daran, dass alles zusammengehört, dass wir alle zusammengehören, lass das Band nicht reißen.

Und ich hatte gesagt, es ginge hier nicht um mich oder um Sie, aber das stimmt nicht ganz, genauer betrachtet geht es hier sehr wohl um mich und um Sie, genauer um uns, aber es geht nicht um mich als Nava Ebrahimi, um Gottes willen, das würde Nava Ebrahimi völlig überfordern. Auch als ich den Bachmannpreis gewann, weshalb ich heute hier stehen darf, ging es nicht um mich, ging der Preis nur mittelbar an mich, unmittelbar ging er an den untötbaren Drang des Menschen, sich gegen alle Widerstände hinzusetzen und einen ersten Satz aufschreiben, ohne zu wissen, wohin er führen wird, aber spürend, dass er am Ende irgendwo hingeführt haben wird, dass ein neuer Kosmos entstehen wird in einem Kopf allein, den andere Menschen betreten und erfahren können. Ein Kosmos, aus einem Satz, in einem Kopf allein.

Dafür all die Preise, dafür all der Pomp, die samtenen Bezüge und die goldenen Bordüren. Nicht für Sie und auch nicht für mich.

Verwirkte Überlegenheit

Jetzt habe ich sogar noch Schiller zugeblinzelt, uff, das war eigentlich das letzte, was ich vorhatte, aber es passt so schön, heute Abend spielen sie hier Maria Stuart, und dass sich der Kreis wunderbar schließt, das dürfte die ein oder andere oder den ein oder anderen vielleicht doch noch ein wenig besänftigen. Kreise besänftigen, Rundes tröstet, vielleicht hoffentlich sogar meine Auftraggeberin und meinen Auftraggeber, denn jetzt, wo bei aller Sprachlosigkeit alles ausgesprochen ist, ist es mir doch ein wenig peinlich, aber ich glaube, selbst Schiller hat mir dank des gut platzierten Programmhinweises verziehen, er hat zumindest einen Fuß von mir genommen und ich kann schon viel besser atmen.

Und deshalb jetzt noch zwei Sätze aus voller Lunge, ohne die ich das hier nicht abschließen kann: Spätestens, allerspätestens mit dem, was wir in Moria, an allen EU-Außengrenzen, was wir in Afghanistan zulassen, haben wir jeglichen Anspruch auf moralische oder gar zivilisatorische Überlegenheit verwirkt. Bitte schminken wir uns jede Form von Überheblichkeit ab." (Nava Ebrahimi, 5.9.2021)