Bei der Europameisterschaft 2016 in Frankreich sorgten die Isländer noch für positive Schlagzeilen und eine Welle der Sympathie. Damals waren sie überraschend bis ins Viertelfinale vorgestoßen. (Nach einem 1:1 gegen den späteren Europameister Portugal, einem 1:1 gegen Ungarn, einem 2:1 gegen die enttäuschenden Österreicher und einem 2:1 im Achtelfinale gegen England.)

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Reykjavík/Frankfurt – Das "Hu" ist längst einem Aufschrei der Empörung gewichen. Ein Missbrauchsskandal inklusive versuchter Vertuschung hat das Image der isländischen Fußballnationalmannschaft als weltweiter Sympathieträger des Landes zerstört. Vor dem WM-Qualifikationsspiel gegen Deutschland am Mittwoch in Reykjavík (20.45 Uhr/RTL) befindet sich der führungslose Verband KSI im Krisenmodus.

Schließlich musste KSI-Präsident Gundi Bergsson vor wenigen Tagen nach den Anschuldigungen zweier Frauen gegen einen Nationalspieler wegen sexueller Übergriffe zurücktreten. Dem Schritt des Verbandschefs folgte kurz darauf der Vorstand, am vergangenen Mittwoch wurde dann noch die Geschäftsführerin beurlaubt. Das ganze Ausmaß des Skandals ist immer noch unklar. Von mehreren sexualisierten Übergriffen durch Nationalspieler ist zwischenzeitlich die Rede.

Sigthorsson am Pranger

Sicher ist, dass es sich bei dem derzeit namentlich Beschuldigten nicht um irgendeinen Nationalspieler handelt. Es geht um Island EM-Helden und Rekordtorschützen Kolbeinn Sigthorsson. Der mittlerweile 31-Jährige hatte den Nordmännern mit seinem Siegtor beim sensationellen Erfolg im EM-Achtelfinale 2016 gegen England (2:1) den größten Triumph der Geschichte beschert.

Die beiden Frauen beschuldigen Sigthorsson, sie 2017 sexuell genötigt und belästigt zu haben. Eine der beiden wirft zudem dem Verband vor, den Versuch unternommen zu haben, sie mit Geld zum Schweigen zu bringen.

In einer Mitteilung musste der Verband in der Zwischenzeit einräumen, sich nicht korrekt verhalten zu haben. Der Verband hat bei den Opfern um Entschuldigung gebeten, Sigthorsson wurde aus dem Kader gestrichen.

Eines der mutmaßlichen Opfer hatte zuvor dem TV-Sender RUV gesagt, dass Sigthorsson ihr im September 2017 in einem Nachtclub in Reykjavík in den Schritt gefasst und sie am Nacken gepackt habe, bevor er und ein weiterer Mann sie angriffen.

Anzeige erstattet

Beide Frauen erstatteten Anzeige. Sigthorsson soll die Übergriffe zugegeben, sich entschuldigt sowie Schmerzensgeld gezahlt haben, so eine der beiden Frauen. Später soll ein Anwalt des Verbandes auf sie zugekommen sein, damit sie für ein Schweigegeld einer Verschwiegenheitsklausel zustimme.

Bergsson musste nun seinen Hut nehmen, weil er der Lüge überführt wurde. Er hatte behauptet, der Verband habe keine "Beschwerde oder Ähnliches erhalten, wonach jemand Bestimmtes sich sexueller Übergriffe schuldig gemacht" habe.

Sigthorsson selbst meldete sich mittlerweile auch zu Wort. Er sei nicht der Meinung, die Frau belästigt oder Gewalt angewendet zu haben, aber sein Verhalten sei nicht vorbildlich gewesen. Er bestätigte die Entschädigungszahlung und gab an, sein Verhalten zu bereuen.

Der Stein war durch die Gleichstellungsbeauftragte des isländischen Lehrerverbandes ins Rollen gebracht worden. Hanna Björg Vilhjalmsdottir hatte öffentlich gemacht, dass Nationalspieler immer wieder mit häuslicher oder sexualisierter Gewalt in Verbindung gebracht werden. Dennoch schütze der Verband die mutmaßlichen Täter.

Sollte sich der Verdacht weiterer Fälle tatsächlich bestätigen, steht Islands Fußball vor einem Scherbenhaufen. Dann ist das sportliche Tief der nicht für die zurückliegende EM-Endrunde qualifizierten Auswahl, die in der deutschen Quali-Gruppe mit lediglich vier Punkten nach fünf Partien auf dem vorletzten Platz liegen, noch das geringste Problem. (sid, 6.9.2021)