Es ist eine schrecklich banale SMS: "Es geht los, wir beginnen" (on est parti on commence), tippte einer der Attentäter am 13. November 2015 um 21.42 Uhr in sein Handy. Dann stürmte das Trio mit Gewehren in das Konzertlokal, wo gerade die amerikanische Band Eagles of Death Metal spielte, und begann seine systematische Massenexekution. 130 Tote und 413 Verletzte lautete die furchtbare Bilanz. Weitere Opfer waren vor dem Stade de France und auf mehreren Bistroterrassen in Paris zu beklagen. Frankreich stand unter Schock.

Erst jetzt, sechs Jahre später, hat die Nation genug Distanz, um jene Blutnacht aufzuarbeiten. Die Dimensionen des Prozesses sind gewaltig. In einem eigens gezimmerten Saal beginnt am Mittwoch die Verhandlung gegen 20 Angeklagte, meist Komplizen (die Schützen sind alle tot). 1800 Zivilkläger und Zeugen sind eingeschrieben. Die Prozessdauer ist auf neun Monate angesetzt, das Urteil für Mai 2022.

Dieser Gerichtssaal in Paris wurde eigens für den Bataclan-Terrorprozess gebaut. Die Urteile sollen im Mai 2022 gefällt werden.
Foto: AFP / Thomas Coex

Die Opferverbände warten seit Jahren auf diesen Moment. Sie wollen verstehen, was die Täter angetrieben hat, unschuldige Bürger zu töten. Arthur Dénouveaux, Vorsteher des Verbands Life for Paris, will nach eigenen Worten "den menschlichen Aspekt in diesen Prozess einbringen". Die Verteidiger warnen ihrerseits vor einem "Ausnahmeprozess", in dem nicht das Recht, sondern die Emotion triumphiere.

Fragen über Fragen

Die Staatsanwaltschaft verlangt für zwölf der 20 Angeklagten lebenslänglich. Einer war am Abend des 13. November aktiv: Salah Abdeslam. Der heute 31-jährige Franzose marokkanischer Abstammung mietete, so viel ist sicher, die Autos und Hotelzimmer und fuhr die Schützen an die Tatorte. Und darüber hinaus? Warum trug auch er einen Selbstmordgurt? Und warum sprengte er sich nicht in die Luft? Nur weil der Zünder nicht funktionierte? Oder glaubte Abdeslam seinen "Brüdern" doch nicht so recht, dass ihm das Paradies winke?

Salah Abdeslam wurde einem stark gesicherten Konvoi zum Gericht gebracht.
Foto: AFP/THOMAS SAMSON

Abdeslam gilt in dem Prozess auf jeden Fall das Hauptaugenmerk. Nach dem Bataclan-Angriff war er 125 Tage lang der meistgesuchte Verbrecher Frankreichs; TV-Sender nannten ihn bis zur Verhaftung in Brüssel "Staatsfeind Nummer eins". Abdeslam ist zudem der erste bekannte Terrorist, den Frankreich lebend fasste. Alle anderen starben unter den Polizeischüssen – Khaled Kelkal 1995, Mohamed Merah 2012 in Toulouse, die Kouachi-Brüder 2015 nach der Charlie Hebdo-Attacke, der Nizza-Terrorist Mohamed Lahouaiej-Bouhlel 2016.

Lieber Playstation als Koran

Zudem ist Abdeslam ein Prototyp des Schnellkurs-Salafisten, der noch ein Jahr zuvor lieber mit einer Playstation gespielt hatte als auch nur einmal den Koran aufzuschlagen. Ein halbstarker Vorstadtbengel, der fast über Nacht der Hetzpropaganda des "Islamischen Staates" (IS) anheimfiel und den Joystick durch das Sturmgewehr ersetzte.

Von Salah Abdeslam erwarten sich die Franzosen deshalb erstmals Einblick in die Psyche und die Motive eines der zahlreichen Banlieue-Jihadisten. Vor allem etwas treibt die Franzosen um: Bis 2015 finden sich in seinem Vorleben keinerlei Indizien einer Radikalisierung. Er hatte immer wieder Beziehungen, arbeitete wie sein Vater in den Brüsseler Verkehrsbetrieben. Er trank Alkohol, kannte die Moscheen nur von außen und beging kleinere Delikte. Nicht gerade das Profil eines religiösen Fanatikers.

Womöglich genügte ein Kontakt mit seinem salafistischen Bruder Brahim oder seinem Jugendfreund Abdelhamid Abaaoud – einem späteren Syrien-Jihadisten und Bataclan-Auftraggeber –, um ihn "umzudrehen". Die Lehren des Propheten habe er nur einmal per Internet-Zusammenfassung überflogen, erzählte später ein Anwalt. Umso rasanter erfolgte die Wende: Plötzlich verwandte er seine Zeit darauf, Waffen sowie Zutaten für den Sprengstoff TATP zu beschaffen. Und das selbstredend mit dem Ziel, Menschen zu töten, Zivilisten eiskalt zu erschießen oder in Fetzen zu reißen.

"Ich bin müde"

Wie war das möglich? Abdeslams spärliche Erklärungen für seine Radikalisierung klingen aufgesetzt, hohl. In einer Einvernahme in Belgien rezitierte der unscheinbare Franko-Marokkaner mit dem Bubengesicht die viel gehörte Standarderklärung, die westliche Mission im "Sham", dem heiligen Syrien, habe gerächt werden sollen. Sonst schwieg er. Als die Richterin mehr wissen wollte, sagte Abdeslam: "Ich bin müde." Er beanspruche die "Unschuldsvermutung" sowie sein Recht zu schweigen, fügte er noch an.

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Bilder der Pariser Schreckensnacht des 13. November 2015.
Foto: REUTERS/Christian Hartmann

Abdeslams damalige Freundin Yasmina schilderte recht glaubhaft, er habe ihr gegenüber nie etwas von Terrorplänen gesagt. Spielte bei seiner Radikalisierung mit, dass die junge Frau und ihre Familie mit Abdeslam brechen wollten, nachdem ihn die Polizei einmal wegen eines Diebstahls verhaftet hatte?

Seit 2016 belegt Abdeslam in Fleury-Mérogis, dem größten Gefängnis Europas, eine Isolierzelle ohne direkte Nachbarn. Er pflegt Briefverkehr mit vier islamistischen Frauen, darunter einer Deutschen. Vor allem eine Französin namens Maëva schickt ihm regelmäßig Trostworte. Heute rezitiert er, der mit dem Islam nichts am Hut hatte, bei seinen Verhören nur seine Shahada (Glaubensbekenntnis), wenn er überhaupt den Mund öffnet.

Auch im Knast spielt er gern den Gläubigen. Aber nicht immer. Wärter mit afrikanischen Wurzeln beschimpft er als "Affen", anderen schreit er zu: "Ich bin Muslim, ihr seid nur Ungläubige, Hunde, ihr werdet mir noch die Füße küssen." Sind Radikalisierte bessere Rassisten?

Abgehörtes Zellengespräch

Am aufschlussreichsten ist vielleicht ein Zellengespräch mit einem anderen Jihadisten, Mohamed Bakkali, das die Polizei verdeckt aufnahm. Halb Französisch, halb Arabisch berichtet Abdeslam, wie er das Tätertrio vor das Bataclan-Lokal gefahren und sich dann mit der Metro in den Pariser Vorort Châtillon abgesetzt habe. Übernachtet habe er in einem Treppenhaus, verköstigt habe er sich im McDonald’s, als wäre nichts. Er habe im "Drive" ein "Menu Fish" bestellt, präzisiert er lachend. "Du bist ein richtiger Killer", zieht ihn der andere auf.

Das Erschreckende an diesem abgehörten Dialog ist gerade der scherzende Tonfall. Sogar der Zynismus abgebrühter Gangster klänge menschlicher. Hunderte von Menschen umzubringen, das ist für Abdeslam weniger erwähnenswert als die Wahl des Fastfood-Menüs. Ist das Verrohung oder Indoktrinierung, verkappte Bösartigkeit oder schiere Dummheit? Jedenfalls eine unfassbare Gleichgültigkeit gegenüber dem menschlichen Leben anderer.

In Abdeslams Schädel herrsche eine "bodenlose Leere", sagte sein belgischer Ex-Anwalt Sven Mary, und mit Anspielung auf das Hobby des Terroristen: "Er ist das perfekte Beispiel der Generation GTA, die in einem Video zu leben glaubt."

"Arbeit" erledigen

Vom McDonald’s zum Jihad übergehend, rechtfertigt sich Abdeslam in dem abgehörten Gespräch, warum er nicht selber nach Syrien gereist sei. "Ich kam zum Schluss, dass es besser war, hier die Arbeit mit den Brüdern zu erledigen", sagt er ohne den Hauch eines Gewissensbisses oder Bedauerns. Mit der "Arbeit" meinte er das Bataclan-Massaker. Der Kriminologe Alain Bauer glaubt, Abdeslam habe selber Angst, von seinesgleichen als Feigling taxiert zu werden, weil er sich (und andere) nicht in die Luft gesprengt habe. Er sei ein Mitläufer, kein Drahtzieher gewesen.

So sieht es heute vor dem Bataclan aus.
Foto: AFP/Thomas Coex

Gut möglich, dass Häftling Nummer 444806 die Erwartungen der Opferverbände enttäuscht und den Prozess nicht weiterbringt. Die Strafe ist dennoch bereits abzusehen: lebenslänglich ohne Möglichkeit frühzeitiger Entlassung. Das sind in Frankreich dreißig Jahre.

Der Cheflogistiker des 13. November käme also 2046 frei, mit 57 Jahren. Einsichtig, geläutert durch die Jahre, wie die Strafvollzugsbehörden schon jetzt hoffen. Oder weil er, dem sein Anwalt die "Intelligenz eines leeren Aschenbechers" attestiert, 2046 vergessen hat, warum er im Gefängnis war. (Stefan Brändle aus Paris, 7.9.2021)