Sehen wir die Klimakrise doch als "Grüner Schwan"-Ereignis, das zu Fortschritt führt, sagt Daniel Dettling im Gastkommentar.

Für den Autor Nassim Nicholas Taleb ist die Corona-Pandemie ein vorhersehbarer Weißer Schwan.
Foto: Imago/Fotostand/Wagner

Haben Sie schon einen schwarzen Schwan gesehen? Nein? Nur weil wir bislang nur weiße Schwäne gesehen haben, können wir ihre Existenz nicht ausschließen. Heute wissen wir, dass es schwarze Schwäne gibt, beispielsweise in Australien. "Schwarzer Schwan" ist aber auch ein Begriff aus der Zukunfts- und Risikoforschung. Der Begriff geht auf einen Bestseller des Risiko-Analysten Nassim Nicholas Taleb zurück und bezeichnet äußerst seltene, unvorhersehbare Ereignisse, welche die Menschheit völlig überraschend treffen. Dazu gehören Entdeckungen und Erfindungen wie Penizillin oder die erste Reise auf den Mond, aber auch der Crash der Aktienmärkte. Für Taleb ist die globale Corona-Pandemie ein Weißer Schwan. Weiße Schwäne sind vorhersehbar und haben eine höhere Eintrittswahrscheinlichkeit. Pandemien sind unvermeidlich und ein Resultat der modernen Zivilisation. So wie die kommende Krise, der Klimawandel.

Was Schwarze und Weiße Schwäne verbindet, sind drei Punkte. Sie führen erstens zu einem Bewusstseinswandel. Nichts wird mehr so sein wie früher. Die Zeit nach Corona wird eine andere sein als zuvor. Wir können uns auf die nächste Pandemie vorbereiten: medizinisch, politisch, gesellschaftlich und individuell. Auch die Klimaveränderungen werden wir nicht mehr "zurückdrehen" können. Wir werden mit den Folgen steigender Temperaturen und einhergehender Hitze- und Dürreperioden leben und uns an sie anpassen. Zweitens betreten wir Krisenneuland, wir bringen wenig Erfahrungen im Umgang mit solchen Krisen mit. Der dritte Punkt betrifft unsere Fähigkeiten zur Gegenwehr und Prävention: Wir können uns auf Störungen wie Pandemien und Klimawandel einstellen und sie abzufedern versuchen. Wichtig werden daher zwei Eigenschaften: Antifragilität und Resilienz.

Positives Potenzial

Das Erfolgsrezept der vergangenen Jahrzehnte, das Streben nach maximaler Effizienz, wird uns im Wege stehen, wenn wir die kommenden Megakrisen bekämpfen wollen. Jene Gesellschaften und Organisationen sind besonders resilient, die einen hohen Grad an Diversität und Selbstregulation besitzen. Je unterschiedlicher die Expertinnen und Experten sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, je mehr Fähigkeiten und Perspektiven sie mitbringen, desto früher kann eine Katastrophe gesehen und desto agiler kann mit ihr umgegangen werden, wenn sie eintritt. Wo Menschen weniger hierarchisch und stärker in Teams und kooperativ arbeiten, desto besser und schneller können sie vor Ort auf die Herausforderung reagieren. Lange Dienstwege und starre Hierarchien kosten Zeit und gute Ideen.

Welche Farbe trägt ein Schwan mit einer seltenen Eintrittswahrscheinlichkeit und einem großen und positiven Potenzial? Der Ökonom John Elkington, Erfinder des Drei-Säulen-Modells, nennt "Grüne Schwäne" solche, die exponentiellen Fortschritt in Form von wirtschaftlichem, sozialem und ökologischem Wohlstand erzeugen können. Immer mehr Unternehmen, Verbraucherinnen und Verbraucher wollen Teil einer regenerativen Wirtschaft und Gesellschaft sein. Der Grüne Schwan Klimawandel kann uns die Richtung aufzeigen, die wir jetzt einschlagen müssen. Folgen werden die Menschen jedoch nur, wenn Ökologie, Ökonomie und Gerechtigkeit in einer Balance miteinander stehen. Ein Klimaschutz mit Wohlstandsverlusten, die sich nur Reiche leisten können, stößt bei den Wählerinnen und Wählern auf Ablehnung.

Langsame Politik

Wie lässt sich die nötige Beschleunigung des Klimaschutzes mit den eher langsamen Verfahren der westlichen Demokratien verbinden? Europa macht die Dekarbonisierung der Wirtschaft zum zentralen Thema für den Wiederaufbau der Wirtschaft nach Corona. Der Kontinent soll zum weltweit führenden Green-Tec-Standort werden. Im Fokus stehen emissionsintensive Branchen wie Verkehr, Energiewirtschaft, Bausektor, Kreislaufwirtschaft und Landwirtschaft. Es geht um Zukunftstechnologien wie Batteriezellen, Wasserstoff, Smart Citys und Lüftungen, um Billionen Investitionen und einen Kampf um die besten Köpfe und Konzepte gegen die Klimazerstörung. Viele Technologien sind noch nicht vorhanden, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Ein ambitionierter europaweiter CO2-Preis würde sie schneller marktfähig machen. Das deutsche Umweltbundesamt kalkuliert einen Preis von 200 bis 250 Euro für den Gebäude- und Verkehrssektor im Jahr 2030.

Tempo ist bei der grünen Transformation entscheidend. US-Präsident Joe Biden hat unmittelbar nach seiner Wahl Anfang des Jahres einen umfassenden Klimaschutzplan präsentiert und eine "Clean Energy Revolution" ausgerufen. Danach wollen die USA wie Europa bis 2050 klimaneutral werden. Bis 2035, also in den nächsten 15 Jahren, soll die Stromversorgung komplett auf erneuerbare Energien umgestellt werden. Und auch China hat seine Klimapläne im letzten Jahr angepasst und beschleunigt. Das "Reich der Mitte" will 2030 den Höhepunkt seiner CO2-Emissionen erreichen und bis 2060 klimaneutral sein.

Breite Akzeptanz

Im Unterschied zu China benötigen die Demokratien in den USA und Europa die Akzeptanz ihrer Bürgerinnen und Bürger. Ohne die Zustimmung einer breiten Mehrheit wird es zu einer weiteren Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft kommen. Auf der einen Seite stehen radikale Klimaschützerinnen und Klimaschützer, für die der Klimawandel einen "Notstand" darstellt, auf der anderen Seite Klimaskeptikerinnen und Klimaskeptiker und viele, die ihr bisherigen Leben weiterleben wollen. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass liberale Gesellschaften Eingriffe in Grundrechte nicht lange tolerieren. Der Grüne Schwan wird nur dann fliegen, wenn wir es schaffen, den Schutz des Klimas als Gewinn an Freiheit und Wohlstand zu denken. (Daniel Dettling, 7.9.2021)