Anamaria Vartolomei in der Ernaux-Verfilmung "Das Ereignis".

Foto: Filmfestival Venedig

Das Publikum ist zurückgekehrt auf den Lido. Nach der stillen Festivalausgabe von 2020 drängen sich dieses Jahr Touristen und Kinobesucher aneinander, selbst entlang des immer noch durch eine Wand verstellten roten Teppichs harren täglich Fans Stars wie Kristen Stewart. Wer noch spät ein Ticket ergattern wollte, hatte allenfalls bei den Mitternachtsfilmen Glück, um dann etwa im Rahmenprogramm Inferno rosso zu sehen, eine Dokumentation über den italienischen Splatter- und Porno-Vielfilmer Joe d’Amato.

Competencia oficial (Offizieller Wettbewerb), so wie die Königssektion des Festivals, heißt dagegen die schwarze Komödie der Argentinier Gastón Duprat und Mariano Cohn, die sich mit maliziöser Lust den Eitelkeiten und Absurditäten des Filmgeschäfts widmet. Dem venezianischen Gipfeltreffen der seriösen Autorenfilme injizierte sie eine starke Dosis Selbstironie – das tut zwischendurch richtig gut.

Ein Film zum Geburtstag

Duprat und Cohn erzählen von dem Entstehen eines Films, den ein 80-jähriger Milliardär der Welt zum Geburtstag schenken will. Er engagiert nur die Besten: Die Regisseurin spielt Penélope Cruz mit aufgebauschten Locken und divenhaften Allüren, die beiden äußerst konträren Hauptdarsteller verkörpern Antonio Banderas und Oscar Martinez – der eine ein Gockel des Kommerzkinos und notorischer Frauenheld, der andere ein eitler Qualitätsfanatiker und Pseudo-"Gutmensch", der das Publikum für seine Ignoranz und Dummheit verachtet.

Vor den modernistischen Dekors der Suárez Foundation stellt sich nicht nur schnell ein äußerst komisches Kräftemessen zweier narzisstischer Nervensägen ein, der Probenprozess inspiriert auch die sadistischen Seiten aller Beteiligten. Auch die Regisseurin ist ein exzentrisches Kaliber – schon ein "Buenos Dias" im Script kann man auf zig verschiedene Art sagen. An einer Stelle lässt sie die Darsteller ihre wichtigsten Trophäen mitbringen, nur um sie dann vor ihren Augen zu schreddern. Nicht nur der beißend scharfe Dialogwitz stimmt: Duprat und Cohn nutzen auch den Raum der Breitwandbilder gekonnt, um von den Intrigen der Darsteller zu erzählen.

Zurück zu den gesellschaftspolitischeren Wettbewerbsfilmen: Da gab es mit L’événement (Das Ereignis) von Audrey Diwan einen Film aus prononciert weiblicher Perspektive zu sehen, die heuer in Venedig auffällig stark vertreten ist. Diwan hat den gleichnamigen Roman der Französin Annie Ernaux adaptiert, der davon erzählt, wie sie 1963 als 23-jährige Frau schwanger wurde und sich dazu entschied, ihr Studium fortzusetzen und das Kind nicht zu behalten. Eine Abtreibung war zu dieser Zeit allerdings noch illegal.

Ohne jeden Zweifel

Ernaux erinnert sich im Buch daran, wie sie diese beklemmende Zeit in ihrem Leben "im Dämmerlicht" verbrachte. Die charakteristisch subjektive Erzählposition der Autorin versucht Diwan erst gar nicht, filmisch aufzufangen. Sie hat die junge Annie mit der rumänischstämmigen Anamaria Vartolomei besetzt, die mit ihrem bestimmten Auftreten keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, dass sie keinen Versuch auslassen wird, um ihr Vorhaben umzusetzen.

Das Hauptaugenmerk des Films gilt somit der Frage, wie sie trotz ihrer zunehmenden Isolation (die Ärzte, der "Zeuger" des Kindes, selbst ihre Studienkolleginnen sind keine Hilfe) und der Gefahr, sich vor dem Gesetz schuldig zu machen, zu einer Lösung kommen wird. Der zeithistorische Kontext, den Ernaux stets miteinfängt, wird durch diese Ausrichtung zwar eher kurz gehalten, doch präzise und einfühlsam inszeniert ist L’événement auf jeden Fall. Indem der Film vorführt, wie die junge wie eine Kriminelle ihre Tat planen muss, um sie dann ganz allein durchzustehen, zeigt er einmal mehr, welche Errungenschaft die mancherorts wieder infrage gestellte Fristenlösung ist.

Großer Eigenbrötler

Mit dem US-Regisseur und Taxi Driver-Autor Paul Schrader kehrte auch ein großer Eigenbrötler an den Lido zurück, der in The Card Counter einmal mehr seine Passion für Schuld-und-Sühne-Dramen auslebt. Oscar Isaac verkörpert den aalglatten William Tell – keinen Freiheitshelden, sondern ein Black-Jack- und Poker-Ass, das in seinem Vorleben einer der Folterer im irakischen Abu-Guhraib-Gefängnis war.

Schrader findet in den abgewirtschafteten Zweitligen-Casinos ein passendes Vexierbild für die Schattenseiten einer Weltmacht. Der Einzige, der hier die Fahne hochhält, ist ein ukrainischer Pokerspieler, der bei jedem Gewinn "USA" grölt. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 7.9.2021)