Ein Klavier, zwei Hände: Die Melodie klingt, als würde Amélie in ihrer fabelhaften Welt an einem regnerischen Tag Zug fahren: fis, g, a, h, a, g, a, cis. Pieces ist ein klassisches Musikstück, eine Minute 26 Sekunden: repetitiv, aber spannend; melancholisch, aber hoffnungsvoll; neu, aber so vertraut, als hätte man es eigentlich schon hundertmal gehört.

Der Wiener Danilo Stankovic galt einst als Wunderkind, heute komponiert er für Netflix-Dokus und Werbespots.
Foto: Daniela Nickmann

Inzwischen wurde das kleine Lied laut Website Tokboard mehr als 21 Milliarden Mal allein auf der Kurzvideoplattform Tiktok gestreamt und etwa von Snoop Dogg und Jason Derulo weiterverbreitet. Es lief im US-Fernsehen, Buzzfeed zählt es zu den Songs, die dieses Jahr jeder gehört hat, plötzlich war es Nummer eins der Tiktok-Charts. Dass Klassik dort erfolgreich ist, war bis dato so unwahrscheinlich, wie dass die Erste Geige der Zweiten freiwillig Platz macht. Es sei "wunderbar", wie "klassische Musik junge Liebhaber findet", sagte Michael Kümmerle von Tiktok. Was so gut wie niemand weiß: Komponiert wurde Pieces in Wien in einer Altbauwohnung in Margareten, von Danilo Stankovic.

Das Lied kennt jeder

Der Erfolg ist, vorsichtig formuliert, kurios. Denn komponiert hat Danilo Stankovic (37) Pieces 2015 als Kuwaiter Auftragsarbeit für den Imagefilm einer Innenarchitektin und ihrer Werkstatt. Das Lied klimperte vereinzelt für Scheichs mit leeren Wohnungen. 2016 bekam Stankovic von seinem Vorbild, dem Grammy-Gewinner Alexandre Desplat, ein Kompliment für Pieces im Rahmen einer Masterclass bei "Hollywood in Vienna", sonst passierte nichts, bis seine Agentur den Song 2020 auf Tiktok lud. In der App posten Menschen Videos mit Musik- und Pieces wurde für emotionale Videos verwendet: bei motivierenden Sportclips oder einem Mädchen, das sich schweren Herzens von ihrem Opa verabschiedet. Allein dieses Video sahen zehn Millionen Menschen, rasend schnell verbreitete sich so das Lied.

Nur den Komponisten kennt keiner. Stankovic nimmt das als Normalfall an. Wenn der Rapper Snoop Dogg ihn als Urheber nennt, findet er das "nett". Knigge schrieb 1788, Komponisten seien "sehr zudringliche", eitle Leute – der kannte aber Stankovic nicht. Er ist ein smarter, zurückhaltender Mensch, ein ehemaliges serbisches Klavierwunderkind und heute "Medienkomponist, zum Beispiel für Netflix – etwa für die Obama-Doku The Final Year, American Crime Story -, Mastercard- und Dove-Werbespots".

Die Chance, dass man etwas von ihm gehört hat, ist hoch. Schon mit fünf Jahren saß er vorm Radio und "hörte" Songs "runter", wie er das nennt, und spielte sie nach. Zum Beispiel Lambada, es waren die Achtziger. Mit 17 Jahren zog er nach Wien, um Pianist zu werden, verdiente neben dem Studium Geld als Barpianist im ersten Wiener Bezirk, manchmal für zehn Euro pro Stunde. Mit 21 begann er sein Kompositionsstudium in Wien. "Mein Traum ist es, Filmkomponist zu werden", sagt er. So wie andere alle Filme mit Julia Roberts sehen, schaut er alle Filme, bei denen sein Idol Desplat die Musik komponierte: Godzilla, Grand Budapest Hotel, Pets, egal.

Der Wert von Millionen Streams

Es stellt sich natürlich schon die Frage, ob man als Musiker auf Tiktok Geld verdient oder ob Millionen Streams so viel wert sind wie Grundstücksbesitzer bei Monopoly zu sein. Früher, als man Musik noch in den Schrank stellte, war klar, wie man als Musiker verdiente: Schillinge gegen Schallplatte. Heute, wo Musik vor allem gestreamt, downgeloadet und geshart wird, ist die Sache weitaus komplexer. Tiktok legt Wert darauf, dass dessen "Licensing-Team" sicherstellt, dass "Musikschaffende vergütet werden, wenn ihre Musik verwendet wird", so Unternehmenssprecherin Lisa Girard.

Wie viel genau, ist ein Rätsel, klar ist nur, dass es winzige Beträge sind, Fachartikel auf Branchenwebsites wie Igroovemusic oder Rolling Stone gehen von 0,003 Euro pro Stream aus, das wären 3000 Euro pro Million Streams. Tiktok will über den genauen Betrag keine Auskunft geben: "Wir bitten um Verständnis, dass die konkreten Summen Teil von individuellen, vertraulichen Verträgen mit den jeweiligen Labels sind", so Girard.

Nimmt man konservativ die offiziell von Tiktok bestätigten drei Milliarden Tiktok-Streams vom Mai 2021 und geht von 0,003 Euro pro Stream aus, wären das neun Millionen Euro. Kann das sein? Oder gibt es einen Maximalbetrag? Auch dazu verweist Tiktok auf die Vertraulichkeit der "Vertragsmodalitäten". Susanne Lontzen von AKM / Austro Mechana, den österreichischen Verwertungsgesellschaften der Komponisten, sagt, den genauen "Wert eines Streams" könne man gar nicht benennen, da "viele Faktoren" zu berücksichtigen seien. "Speziell bei abonnement- und werbefinanzierten Diensten" – darunter Tiktok und Spotify – schwankten die Werte, aufgrund der "unterschiedlichen Verkaufspreise von Werbeflächen". Und die Tantiemenausschüttung erfolgt nach komplizierten Regeln an alle Mitglieder, nicht eins zu eins an ein Mitglied.

Unter @danilostankovicmusic freut sich der Komponist über den Erfolg.
Foto: Screenshot Tiktok

Durch die Unberechenbarkeit können Social Media nicht die einzige Einnahmequelle für Komponisten sein. Aber es hilft, den Namen und den eigenen Stil bekannter zu machen. Lieder, die viral gehen, finden ihren Weg oft in die Charts. Boney Ms Uralt-Hit Rasputin von 1978 etwa ging kürzlich auf Tiktok viral, und die Spotify-Streamingzahlen haben sich von vier auf 17 Millionen mehr als vervierfacht. Der Rapper Montez erklomm vergangene Woche die deutschen Charts, nachdem sein Auf und Ab viral ging. Auch Stankovics Beispiel zeigt, dass über Nacht jeder einen Welthit haben kann, wenn der Song nur gut ist – egal wie bekannt er zuvor war.

Und wie arbeiten Komponisten? Im Österreichischen Komponistenbund gibt es derzeit 698 Personen, darunter zwei Wagners und null Mozarts. Manche denken bei Komponisten vielleicht an Bach, der bei Kerzenschein eine Kantate aufs Papier zaubert – heute ist Komponist ein Stressberuf mit Deadlines. "Für einen Werbespot habe ich ein paar Stunden Zeit, für einen Trailer anderthalb Tage." Kreative Fließbandarbeit. "Bei einem 90-minütigen Kinofilm hat man 60 bis 90 Minuten Filmmusik. Oft muss man die unter viel Zeitdruck schreiben." Manchmal, so Insider, in nur einem Monat.

Kreativität ist unplanbar

"Deswegen", so Stankovic, "arbeiten manche Filmkomponisten im Team." Komponieren ist schwer planbar: "Manchmal hat man in zehn Minuten eine Idee, manchmal braucht man für eine simple Idee mehrere Stunden." Er beginnt mit Papier und Stift, um Themen und Motive zu finden, dann komponiert er an seinem digitalen Piano, ehe die Musik eingespielt und orchestriert wird – wenn "Zeit und Budget" es erlauben, mit Musikern, ansonsten mithilfe von Music-Software-Libraries.

"Ich konzentriere mich ganz aufs Komponieren", sagt Stankovic. Die Aufträge zieht seine Agentur Score a Score in Los Angeles an Land. Sie liegt zehn Minuten vom Dolby Theatre entfernt, wo jedes Jahr die Oscars für die beste Filmmusik verliehen werden. So gesehen ist der Wiener den Oscars schon ganz nah. (Nora Reinhardt, 7.9.2021)