Der Wiener Gemeinderat Erich Valentin (SPÖ) und Sabine Jungwirth, Bundesvorsitzende der Grünen Wirtschaft, diskutierten heftig über die Wiener Verkehrspolitik.

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"Straßen zu bauen ist keine Lösung", sagt Sabine Jungwirth.

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Der Wiener Gemeinderat Erich Valentin (SPÖ) verteidigt aktuelle Straßenbauprojekte, denn diese würden Bewohner entlasten. Sabine Jungwirth, Bundesvorsitzende der Grünen Wirtschaft, hingegen warnt vor noch mehr Verkehr.

STANDARD: Wie sind Sie heute hierher in die Seestadt gekommen?

Jungwirth: Ich bin aus Graz gekommen, also zuerst mit dem Bus, dann Zug und U-Bahn gefahren.

Valentin: Ich bin mit dem Auto da, weil ich einen Aktenberg dabei und heute acht getaktete Meetings hintereinander hatte.

STANDARD: Während Paris Autos verbannt, plant Wien die Stadtstraße und den Lobautunnel. Was unterscheidet Wien von Paris?

Valentin: Dass man sich Wien leisten kann, dass wir einen geförderten Wohnbau haben, dass wir bessere öffentliche Verkehrsanbindung haben und einen Grünanteil von 51 Prozent. Es gibt immer Spielraum nach oben, aber wir starten auf einem guten Niveau. Was den motorisierten Individualverkehr betrifft, liegen wir in Wien bei 25 Prozent, das werden Sie europaweit kein zweites Mal finden. Wir haben aber einen problematischen Bereich von 270.000 Pendlern täglich. Das wollen wir reduzieren.

STANDARD: Verkehrs- und Umweltministerin Leonore Gewessler lässt den Eindruck entstehen, dass die Grünen eine möglichst autofreie Stadt wollen. Aber geht das nicht an den Bedürfnissen der Menschen vorbei, die in Außenbezirken ein Auto brauchen?

Jungwirth: So, wie Sie das formulieren, haben alle Menschen das Bedürfnis mit dem Auto zu fahren. Das eigentliche Bedürfnis ist aber Mobilität. Es gilt zu überlegen, wie diese für jede Lebenssituation zur Verfügung gestellt werden kann. Da sind riesige Transformationen nötig. Das eigentliche Problem ist aber, dass wir 20 Jahre zu spät dran sind, um bis 2040 überhaupt klimaneutral zu sein.

STANDARD: Laufen die Transformationsprozesse in Wien schnell genug?

Jungwirth: Nicht, wenn wir neue Straßen bauen. Studien belegen, dass dadurch mehr Verkehr erzeugt und Gütertransport forciert wird. Ich verstehe, dass es Bezirke gibt, die sagen, dass sie im Verkehr ersticken. Aber Straßen zu bauen ist keine Lösung, wir müssen andere Mobilitätskonzepte schaffen.

Valentin: Das wird den Frächter aus Litauen sehr beeindrucken, wenn er mit 35 Tonnen Ladekapazität aufgebrochen ist und Container in einem Mittelmeerhafen verschiffen will.

Jungwirth: Der Frächter kommt auf die Schiene.

Valentin: Wenn Frau Gewessler es schafft, in kürzester Zeit ein Eisenbahnnetz, das zu Kaiser Franz Josefs Zeiten effizienter war als heute, umzusetzen, dann viel Glück. Aber auch wenn das 1-2-3-Ticket jemals kommt, ändert sich dort, wo es uns allen wehtut, nämlich im Speckgürtel, nichts. Wer hier öffentlich fährt, hat eine Streckenkarte. Für alle, die auf das 1-2-3-Ticket umsteigen, wird es nicht billiger. Hätte man vorher diskutiert, hätte man vielleicht etwas anderes herausbekommen. Zudem kommen täglich 70.000 Schwertransporter. Daher reden wir über den Ausbau der Stadtstraße und des Lobautunnels. Jede kleine Ortschaft in Österreich hat eine Umfahrungsstraße. Auch der Bundeskanzler hat gesagt, dass die Stadtstraße das bestgeprüfte Bauwerk der Zweiten Republik ist. Selten hat er recht, in dem Fall schon.

STANDARD: Auch der Bau von neuen Stadtteilen in Wien-Donaustadt kann nicht weitergehen ohne Stadtstraße. Braucht eine wachsende Stadt, die sich ins flache Land ausbreitet, keine neuen Straßen?

Jungwirth: Die Frage baut drauf auf, dass man nur mit Pkw und Lkw mobilisieren kann. Auch bei Erweiterungen von Stadtgebieten, im konkreten Fall geht es um 60.000 Wohnungen, muss der Verkehr nicht mit einer schnellen Straße für Pkws organisiert werden. Das ist nicht zeitgemäß, wenn es darum geht, die Klimaziele im Auge zu behalten. Gerade im Burgenland habe ich oft darunter gelitten, alleine im Bus zu sitzen, weil kein Mensch dort mit dem Bus fährt. Das Netz ist so unattraktiv, dass niemand damit fahren will. Auch Schienen sind zurückgebaut worden. Da ist ein roter Landeshauptmann, der nicht schaut, dass es günstigen öffentlichen Verkehr gibt, und genau gar nichts macht.

Valentin: Nicht einmal Ihre Fraktion im Burgenland behauptet, dass die Verbindungen leer sind, ganz im Gegenteil, die Buslinie Güssing 1 musste sogar einige Male aufgestockt werden. Ich mache Ihnen ein Angebot: Sagen Sie für die Stadtstraße zu, und ich garantiere, dass eine Fahrspur der Südosttangente für Schnellbusse und Einsatzfahrzeuge zur Verfügung steht.

Jungwirth: Ich bin nicht in der Position, eine Verhandlung zu führen. Der Punkt ist, wir werden beides benötigen, also weder Tunnel noch Stadtstraße und gleichzeitig den Rückbau so mancher Straßen. Es geht nicht anders. Wir brauchen Platz für öffentlichen Verkehr.

STANDARD: Blicken wir 20 Jahre in die Zukunft. Wie sollte Mobilität in Wien ausschauen?

Valentin: Unsere individuell motorisierten Verkehrsvorgänge lagen vor einiger Zeit noch bei 27 Prozent, wir hangeln uns gerade nach unten. Unter 20 Prozent zu kommen wird schwer möglich sein, weil Polizei und Feuerwehr mit dem Auto kommen, und derjenige, der meine Waschmaschine repariert, hat auch einen schweren Kasten. Es wird auch Straßen geben und hoffentlich eine Umfahrungsstraße.

Jungwirth: Es sollen möglichst wenig Autos sein, aber es wird auch nicht null sein. Das ist weltfremd. Die Waschmaschine werden wir nicht von einer Drohne absetzen lassen. Aber den motorisierten Individualverkehr so weit zu reduzieren wie möglich und auch die Antriebstechnologien entsprechend zu transformieren ist die Aufgabe der nächsten Jahre. (Julia Beirer, 7.9.2021)