Das Tora-Gefängnis in Kairo. Viele der Getöteten befanden sich zum Zeitpunkt ihres Todes in Gewahrsam.

Foto: AFP / Khaled Desouki

Kairo – Schwere Vorwürfe gegen die ägyptischen Sicherheitsbehörden erhebt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Sie hätten in den vergangenen Jahren dutzende mutmaßliche "Terroristen" außergerichtlich getötet und dies dann als "Schusswechsel" bezeichnet, heißt es in einem am Dienstag veröffentlichten HRW-Bericht. Viele der angeblich bewaffneten Kämpfer hätten sich nämlich zum Zeitpunkt der Tötung bereits in Gewahrsam befunden.

"Ägyptische Sicherheitskräfte haben jahrelang außergerichtliche Hinrichtungen durchgeführt und behauptet, die Männer seien bei Schusswechseln getötet worden", sagte Joe Stork, stellvertretender Direktor für den Nahen Osten bei Human Rights Watch, laut einer Aussendung. Als Konsequenz forderte Stork, dass die internationalen Partner Ägyptens ihre Waffenlieferungen einstellen und Sanktionen gegen die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Behörden und Beamten verhängen. Außerdem wurde der UN-Menschenrechtsrat aufgefordert, einen Mechanismus zur Untersuchung Ägyptens einzurichten.

Nur ein Verdächtiger festgenommen

Das ägyptische Innenministerium habe zwischen Jänner 2015 und Dezember 2020 den Tod von mindestens 755 Menschen bei 143 angeblichen Schusswechseln bekanntgegeben, doch sei dabei nur ein Verdächtiger festgenommen worden, heißt es in dem 101-seitigen Bericht "'Security Forces Dealt with Them': Suspicious Killings and Extrajudicial Executions by Egyptian Security Forces". Lediglich 141 Getötete seien identifiziert worden, die Erklärungen hätten kaum Details enthalten, und viele Passagen seien kopiert und an mehreren Stellen eingefügt worden.

Fast immer sei behauptet worden, dass die mutmaßlichen Militanten das Feuer eröffnet hätten. Alle seien wegen "Terrorismus" gesucht gewesen, die meisten davon hätten der Muslimbruderschaft angehört. Sie stellte kurzzeitig den Präsidenten, ist aber seit dem Militärputsch vom Juli 2013 starken Repressionen ausgesetzt, verboten und als Terrororganisation eingestuft.

Vor Tötung in Gewahrsam gewesen

Genauer untersucht wurden von HRW die Fälle von 14 Personen, die bei neun Vorfällen auf dem ägyptischen Festland getötet worden seien. Bei keinem dieser Vorfälle seien Verdächtige verhaftet worden und es habe auch keine Opfer unter den Sicherheitskräften gegeben. Familien und Bekannte der 14 Männer hätten gesagt, dass sich diese bei der Tötung in Gewahrsam befunden hätten.

HRW ließ zudem inoffizielle Fotos und Videos der Getöteten mit den vom Innenministerium zu zwei Schusswechseln veröffentlichten Aufnahmen vergleichen. Eine unabhängige forensische Analyse habe dabei Abweichungen von der offiziellen Darstellung gezeigt. Bei drei Leichen seien die Hände offenbar unmittelbar vor dem Tod auf dem Rücken gefesselt oder mit Handschellen fixiert gewesen. In einem Fall berichtete eine regierungsnahe Zeitung über die Verhaftung eines 19-jährigen Studenten und sein Verhör, das eine Woche lang dauerte. Danach habe das Innenministerium behauptet, Beamte hätten ihn bei einem "Schusswechsel" getötet.

Spuren von Misshandlung

Mitglieder von acht Familien gaben an, an den Körpern der Getöteten Spuren von Misshandlungen gefunden zu haben. In 13 Fällen erkundigten sich die Angehörigen noch vor der Tötung nach dem Verbleib der Männer. Vom Tod hätten die Familien in der Regel aus den Medien erfahren, und alle gaben an, dass sie von Beamten des Nationalen Sicherheitsdienstes eingeschüchtert und schikaniert worden seien, als sie den Leichnam finden wollten. Nur eine Familie gab an, dass ihr getöteter Angehöriger wahrscheinlich an bewaffneten Aktivitäten beteiligt gewesen sei. Die anderen sagten, ihre Verwandten seien nicht gewalttätig und in einigen Fällen auch nicht an politischen Aktivitäten beteiligt gewesen.

Human Rights Watch schickte im April und Mai 2021 zwei Briefe an die Behörden mit detaillierten Fragen zu den angeblichen Schusswechseln, erhielt aber keine Antwort. Es gebe auch keine Belege, dass die Behörden ernsthafte oder aussagekräftige Ermittlungen zu auch nur einem der Vorfälle eingeleitet hätten, so HRW. Zwar könne man keine endgültigen Schlussfolgerungen über die Hunderten Tötungen ziehen. Die dokumentierten Vorfälle zeigten jedoch ein klares Muster rechtswidriger Tötungen auf. Diese hätten zugenommen, nachdem Präsident Abdelfattah al-Sisi im Juni 2015 eine "rasche Justiz" im Kampf gegen gewalttätige Gruppen gefordert hatte, weil die regulären Gerichte und Gesetze nicht ausreichten. (APA, 7.9.2021)