Wegen Lockdowns geschlossenes Lokal: Laut Regierung ist das ein Bild, das der Vergangenheit angehört.

Foto: APA /Barbara Gindl

Einen Lockdown für alle werde die Regierung nicht mehr verhängen: Im ORF-"Sommergespräch" hat sich Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) festgelegt. Angesichts der aktuellen Zahlen klingt das mutig. Sowohl die Infektionsrate als auch die Auslastung der Intensivstationen liegen höher als im September des Vorjahres, als sich eine desaströse zweite Corona-Welle aufbaute.

Zwar gibt es im Vergleich zu 2020 einen entscheidenden Vorteil: Weil mittlerweile 62 Prozent der Bevölkerung zumindest erstgeimpft sind, ist die Gruppe jener, die schwer an Covid erkranken können, heute viel kleiner. Dennoch macht die Lage der Regierung so weit Sorgen, dass sie am Mittwoch mit den Landeshauptleuten ein Maßnahmenpaket schnüren will, um die Überlastung der Spitäler – so das Generalziel – zu verhindern.

Wird es reichen, neue Restriktionen – wie von Türkis-Grün angepeilt – auf Ungeimpfte zu beschränken? Sofern keine neue Virusmutation die Immunisierung unterläuft, neigt Peter Klimek einem Ja zu. Weil Geimpfte in 80 bis 90 Prozent der Fälle vor symptomatischen Infektionen geschützt sind, seien diese kein Risiko mehr für das System, sagt der Forscher vom Complexity Science Hub Vienna. Folglich habe auch ein Lockdown für diese Gruppe kaum epidemiologischen Nutzen.

1G-Regel nicht nur in Discos und Bars

Doppelt sinnvoll wäre es hingegen, den Zugang zur Nachtgastronomie auf Geimpfte zu beschränken: So ließen sich nicht nur Cluster in Discos und Bars verhindern, sondern auch junge Leute zum Gang in die Impfstraße motivieren. Sollte dies die Lage nicht genug entspannen, könnte die 1G-Regel auf andere Bereiche ausgeweitet werden, empfiehlt Klimek. Außerdem biete sich an, für Berufszweige mit vielen persönlichen Kontakten – etwa Hotellerie und Gastronomie – eine Impfflicht einzuführen. Medizinische Unis verlangten von Studierenden ja auch eine Impfung.

"Nachdem wir den Sommer nun durchgetanzt und durchgefeiert haben, braucht es aber auch eine deutliche Krisenkommunikation", sagt Klimek. Er bezweifle, dass der schleppende Impffortschritt hierzulande nur mit der starken Lobby an Esoterikern, Homöopathen und Co zusammenhänge: "Wir sind unter vergleichbaren Staaten beim Impfen ziemliches Schlusslicht."

Impfbus mit 50 Litern Bier im Gepäck

"Schaffen wir noch eine Million Impfungen, sollten wir mit milden Maßnahmen auskommen", urteilt der Simulationsforscher Niki Popper, der mittlerweile von einer "Epidemie der Ungeimpften" spricht: "Aber das wird mit Dienst nach Vorschrift nicht gelingen." Ob die Impfkampagne zuletzt denn nach diesem Muster abgelaufen sei? "Wir haben im ganzen August gerade einmal etwas mehr als doppelt so viele Erstimpfungen geschafft wie am stärksten Tag im Mai", antwortet der Experte: "Das sagt ja schon einiges."

Ihn ärgere, wenn nach "Inschallah"-Manier so getan werde, als seien 40 Prozent der Bevölkerung halt verbohrte Impfgegner. "Die Menschen sind nur verunsichert", glaubt Popper: "Mit transparenter Kommunikation und einem niederschwelligen Angebot, das Vertrauen schafft, gibt es sicher noch viel Potenzial. Bei jedem Feuerwehrfest muss der Impfbus vorfahren – am besten mit 50 Litern Bier im Gepäck."

Darüber hinaus brauche es konsequentes Testen samt Isolation im Infektionsfall sowie die Ausweitung von Hygienemaßnahmen wie etwa der Maskenpflicht. Und wenn all das nicht reicht? Auf diese Spekulationen will sich Popper nicht einlassen. "Ein Lockdown muss um alles in der Welt verhindert werden", sagt er: "Die Leute müssen schnallen, dass wir das einfach schaffen müssen. Da braucht es klare Botschaften von der Politik. Wir sind spät dran – aber besser spät als nie."

Dem Virus geht das Brennholz aus

Aber ist die Gruppe der Ungeimpften – vielfach jüngere Leute mit geringerem Risiko eines Spitalsaufenthalts – tatsächlich so groß, um dramatische Folgen auszulösen? Anders als im Herbst 2020 werde sich die Dynamik mit der Zeit von allein abschwächen, prognostiziert Klimek, zumal der Pool der Menschen, die an Covid schwer erkranken können, immer kleiner werde. "Dem Virus geht irgendwann das Holz zum Verbrennen aus", sagt Klimek. "Doch bis dahin haben Ungeimpfte das Potenzial, die Intensivstationen um ein Mehrfaches zu überlasten."

In den Rechenmodellen sehe man zum Jahreswechsel ein mögliches "Abflachen", sagt auch Popper: Das bedeute, dass Infizierte wirklich weniger Menschen treffen, die sie noch infizieren können. Verlassen sollte man sich darauf aber nicht, ergänzt der Simulationsforscher. "Erstens ist der Weg dorthin entscheidend, denn Impfungen ersparen uns viele Menschen im Spital", sagt Popper. "Und zweitens muss man berücksichtigen, dass laufend Menschen die Immunität auch wieder verlieren."

Delta-Variante füllt Spitäler

Bleibt die Frage, wie hoch die Infektionszahlen ansteigen können, ehe die Spitäler kollabieren. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Kurven hat sich durch die Impfungen selbstverständlich geändert. Nur zum Vergleich: Aktuell halten wir bei etwas mehr als 23.000 Infektionsfällen, rund 400 Personen in Spitalsbehandlung und 157 auf der Intensivstation. Zuletzt hatten wir Ende Februar ähnlich viele Infizierte, damals aber über 1.000 Covid-Patienten in Spitalsbehandlung und über 250 auf Intensivstationen.

Eine weitere Variable ist die Virulenz der Delta-Variante: Neue dänische und britische Studien gehen davon aus, dass die momentan vorherrschende Mutante das Risiko für Ungeimpfte, nach einer Infektion im Spital behandelt zu werden, im Vergleich zu Alpha mehr als verdoppelt; eine Untersuchung aus Norwegen, die nur als Preprint vorliegt, fand hingegen keinen Unterschied. Auch dieser – noch unsichere Faktor – wirkt sich auf das Verhältnis Infektionszahlen versus Belegung der Intensivstationen aus.

Diesbezügliche Rückschlüsse aus Ländern wie Israel und Großbritannien, die bereits länger in der vierten Welle stecken, sind allerdings schwierig. Diese beiden Länder haben mit einem Anteil von 68 und 71 Prozent zumindest Erstgeimpften an der Gesamtbevölkerung deutlich höhere Impfquoten als Österreich. (Gerald John, Klaus Taschwer, 7.9.2021)