Wer die Mobilität verändern will, muss beim Wohnen ansetzen, sagt der Verkehrsforscher Harald Frey von der TU Wien. Denn: "80 Prozent unserer Wege beginnen und enden am Wohnort. Somit bestimmt die Gestaltung des öffentlichen Raums, in welcher Art und Weise die Menschen mobil sind", betont der Verkehrsforscher. Ist das Wohnumfeld attraktiv genug, verweilen die Menschen gern im Grätzel, anstatt nur das Nötigste dort zu erledigen. "So können Wege, Zeit und Energie gebunden werden."

In der Bewertung des Wohnumfelds spielten heute Kriterien wie sicherer Raum für Kinder, barrierefreie Zugänge oder Grünflächen eine zentrale Rolle. Doch dies sei nicht immer so gewesen, sagt Frey und beschreibt die Leitprinzipien der Verkehrsplanung von einst. "Dabei wurden Parkplätze und Zufahrtsmöglichkeiten für Pkws geschaffen oder die Rückstaulänge von Kreuzungen bis zum Jahr 2050 berechnet. Mit dem Wesentlichen hingegen, die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen, kämpfe die Verkehrsplanung bis heute.

Harald Frey, Verkehrsforscher an der TU Wien.
Foto: Newald

Die Frage nach dem geeigneten Wohnumfeld ist aber nicht die einzige Herausforderung, vor der die Forschung steht. Denn selbst wenn Grätzel perfekt gestaltet sind, ist es in einer wachsenden Stadt unmöglich, alle Wege darin abzubilden. Frey: "Es gilt daher eine sogenannte Mobilitätsgarantie zu bewerkstelligen, und das ist heutzutage mit ein paar Parkplätzen nicht mehr erledigt." Stattdessen brauche es innovative Lösungen.

Beispiele dafür finden sich bereits in Wiener Stadtentwicklungsgebieten wie dem Sonnwendviertel hinter dem Wiener Hauptbahnhof und der Seestadt. Hier sind baufeldübergreifende Sammelgaragen unter Sharing-Prinzipien sowie intensiver Flächennutzung entstanden. Frey: "Durch die Reorganisation eines bestimmten Bausteins entsteht eine Vielzahl an positiven Folgewirkungen."

Hebelwirkung

Auch Katja Schechtner, Mobilitätsforscherin am MIT in Boston, ist überzeugt, dass der Erfolg eines Konzepts nicht von einem großen Wurf, sondern von zahlreichen Einzelmaßnahmen abhängt. "Jede Innovation zählt", ist ihre Hauptbotschaft. "Es ist gut, dass es Multimodalität im Straßenverkehr gibt und dass wir viele neue Dinge ausprobieren – unter anderem auch von Verkehrssystemen anderer Städte lernen."

Katja Schechtner, Mobilitätsforscherin am MIT.
Foto: Newald

Als gelungenes Beispiel für die Zusammenführung von Wohnen und Mobilität nennt Schechtner Paris, wo sie derzeit wohnt. Dazu trage auch die hohe Bevölkerungsdichte in der französischen Hauptstadt bei. "Die Straße muss in Paris für das öffentliche Leben und nicht nur für den Verkehr genutzt werden, weil der Wohnraum schlicht sehr knapp bemessen ist."

Das Konzept könne nur gelingen – und das gilt für alle Ideen, die Wohnen und Mobilität zusammenführen –, wenn die interdisziplinäre Zusammenarbeit funktioniert. Diese fange bei Raumplanern, Architekten und Bauträgern an, führe aber bis hin zu Datenanalytikern zur Auswertung und Verbesserung einzelner Gebäude oder Wege.

Damit ist Schechtner bereits bei ihrer nächsten Forderung angelangt – der Entmystifizierung der Digitalisierung. "Moderne Technologien und Apps müssen als Kulturtechnik verstanden und auch Kindern frühzeitig beigebracht werden."

Die Wissenschafterin nennt dafür ein gelungenes Beispiel: Dank einer Logistik-App müssen indische Lkw-Fahrer ihre Fracht nicht mehr tagelang durch die Gegend karren. Stattdessen übergeben sie diese nach sechsstündiger Fahrt an einen Kollegen und können die Heimreise antreten.

Schechtner: "Der Transporter steht also nicht elf Stunden auf dem Parkplatz, und der Fahrer ist auch nicht tagelang unterwegs. Das funktioniert durch Digitalisierung."

Stefan Tichacek, Projektmanager Wien-Box.
Foto: Newald

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch die Wien-Box. Mittels einer digitalen Plattform können Pakete in insgesamt 206 Boxen unterschiedlicher Betreiber in ganz Wien kontaktlos hinterlegt oder abgeholt werden. "Wir wollen einzelne Betreiber und Standorte zu einer multimodalen Nutzung bündeln und Wege reduzieren", sagt Projektmanager Stefan Tichacek. Auch dadurch werde Verkehr reduziert. (Julia Beirer, 09.09.2021)