Die Modedesigns des Amsterdamer Labels The Fabricant existieren nur digital.
Foto: The Fabricant

Mehr als 20 Kollektionen wirft so manche Fast-Fashion-Marke jedes Jahr auf den Markt. Im Luxusbereich sind es ungefähr sechs. Der Hunger nach immer neuer Kleidung scheint unersättlich. Doch sieht man sich die Stücke genauer an, ist es nicht weit her mit den Neuerungen. Trends wechseln einander gegenseitig ab oder existieren nebeneinander. Vieles hat man schon einmal gesehen, echte Innovationen sucht man meist vergebens. Doch durch Corona hat eine Entwicklung an Fahrt gewonnen, die ihren Anfang erst vor wenigen Jahren genommen hat und sich von allem bisher Dagewesenen grundsätzlich unterscheidet. Digital Fashion befreit sich von der haptischen Komponente der Bekleidung. Anstatt aus Stoff bestehen die Teile aus Pixeln. Auch wenn man sie nicht angreifen, geschweige denn anziehen kann, werden sie in Zukunft stark an Relevanz gewinnen. Die virtuelle Mode passt perfekt ins Zeitalter der Selbstinszenierung auf Social Media, die Produktion ist ressourcenschonend, und beim Designen sind der Kreativität keine Grenzen durch die Gesetze der Physik gesetzt.

Wie genau Digital Fashion funktioniert, sieht man auf der Website von Tribute Brand. Das Label rund um die Kroatin Gala Marija Vrbanic bietet seiner Kundschaft seit 2020 Kleidung, die nur virtuell existiert. Ein aufgeplustertes Kleid in Rosa, das an eine Skulptur von Jeff Koons erinnert, eine ausgestellte Hose, an der sich blau leuchtende Bänder entlangschlängeln, oder vielleicht doch ein metallisch glänzendes Bustier? Hat man sich im Webshop durch die verfügbaren Kreationen gescrollt und sein Lieblingsteil in den Warenkorb gelegt, wird man aufgefordert, ein Foto von sich hochzuladen. Dazu gibt es einen Guide, welchen Parametern das Bild entsprechen sollte, um ein optimales Ergebnis zu erreichen. Das Team von Tribute Brand montiert das gekaufte Kleidungsstück dann digital auf das Foto. Spätestens fünf Werktage später erhält man das fertige Bild zurück und kann es zum Beispiel auf Social Media posten.

Die Stücke von Tribute Brand sind allesamt limitiert und ab 120 Dollar zu haben. Aufwendigere Designs kosten zwischen 300 und 670 Dollar. Peanuts im Vergleich zum Iridescence-Kleid vom Pionier der digitalen Mode, The Fabricant. 2019 wurde die Robe mit schimmerndem Überwurf, ein virtuelles Einzelstück, für 9500 Dollar verkauft. Erschwinglichere Entwürfe des 2018 gegründeten Amsterdamer Labels gibt es für rund 200 Euro bei Dress X. Der Online-Shop ist spezialisiert auf Digital Fashion verschiedener Anbieter. Noch günstiger konnte 2018 die Kundschaft von Carlings digitale Kleidung shoppen. Das skandinavische Modehaus bot zur Lancierung seines Online-Shops Hosen, Jacken und Brillen an, die nur virtuell existierten. Sie waren auf je zwölf Stück limitiert, die Preise lagen zwischen zehn und 30 Dollar. Was als Spielerei für Social Media gedacht war, stellte sich als Verkaufsschlager heraus. Die digitale Kollektion war innerhalb kürzester Zeit ausverkauft.

Ressourcen schonen

Aber warum kaufen Menschen Kleidung, die sie gar nicht anziehen können? "Die Generation Z ist in einer digitalen Welt aufgewachsen. Sie nutzt solche Angebote also sehr intuitiv. Digitale Mode, die keinen Müll produziert, korreliert außerdem mit den Sorgen junger Menschen um den Planeten", sagt Michaela Larosse, Strategie-Managerin bei The Fabricant. Das Thema Nachhaltigkeit wird im Zusammenhang mit Digitial Fashion gerne ins Treffen geführt. Die klassische Bekleidungsbranche ist eine der größten Umweltsünderinnen weltweit. Dagegen wollte eine der Gründerinnen von The Fabricant, Amber Jae Slooten, ein Zeichen setzen. Schon für ihre Abschlusskollektion an der Modeschule verzichtete sie auf eine physische Kollektion, arbeitete rein digital. Bei der Produktion digitaler Kleidungsstücke werden keine Ressourcen für Material verbraucht, beim Transport entstehen keine Treibhausgasemissionen, man muss die Teile nie waschen, und es fällt später auch kein Müll durch Entsorgung an. The Fabricant hat den gesamten Lebenszyklus von physischen mit digitalen Kleidungsstücken verglichen: Letztere hätten demnach eine über 90 Prozent bessere Umweltbilanz als ihr traditionelles Pendant.

Das virtuelle "Iridescence"-Kleid von The Fabricant erzielte den Rekordpreis von 9500 Dollar.
Foto: The Fabricant

Dafür können die virtuellen Teile einen wichtigen Zweck von Kleidung nicht leisten: den Schutz des Körpers vor Umwelteinflüssen. Mode erfüllt aber auch andere Funktionen. Sie ist Ausdruck von Identität und sozialer Zugehörigkeit. In Zeiten von Social Media hat diese Aufgabe einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert. Auf Instagram und Co verpasst man sich (auch) mittels Kleidung das gewünschte Image. So finden sich auf Instagram unter dem Hashtag #ootd (Outfit of the day) 373 Millionen Einträge. Man will sich in immer neuen Outfits zeigen. Mode-Influencerinnen und -Influencer treiben die textile Inszenierung auf die Spitze. Oft tragen sie Stücke ihrer Werbepartner nur ein einziges Mal, um sich darin ihren Followern zu präsentieren – nicht gerade umweltfreundlich. Für solche Zwecke kann digitale Kleidung eine ressourcenschonende Alternative sein.

Dass virtuelle Mode nicht nur ökologisches, sondern auch ökonomisches Potenzial hat, zeigt die Gaming-Szene. In Online-Spielen können User sogenannte Skins erwerben. Dabei handelt es sich um Outfits für Avatare, also die Spielfiguren, oder Verzierungen für deren Accessoires. Diese Skins haben sich zu einer beträchtlichen Einnahmequelle entwickelt. Es wird kolportiert, dass Epic Games, die Firma hinter dem beliebten Game Fortnite, monatlich rund 300 Millionen Dollar mit dem Verkauf von Skins umsetzt. Kein Wunder, dass hier auch die großen Modeunternehmen mitmischen wollen. So hat zum Beispiel Nike einen Sneaker speziell für Fortnite kreiert, Gucci brachte letztes Jahr Outfits für das Smartphone-Spiel Tennis Clash heraus, und Louis Vuitton bietet Skins im Game League of Legends an.

Erste Schritte

Es sind erste Gehversuche in einem Markt, der in Zukunft enorm an Bedeutung gewinnen wird. Davon ist auch Michaela Larosse von The Fabricant überzeugt: "Das Leben verlagert sich zusehends in die virtuelle Welt. Es wird immer relevanter, seine Identität dort kuratieren zu können. Digitale Mode nimmt dabei eine wichtige Rolle ein." Augmented-Reality-Filter machen schon jetzt möglich, die physische Realität im Blick durch die Kamera um digitale Elemente zu erweitern. So kann man beispielsweise in Videochats Make-up oder Kleidung digital tragen. Eine Software erkennt den Körper, legt die entsprechenden Filter darüber und folgt den eigenen Bewegungen. Im Vergleich zu den statischen Fotos von virtueller Kleidung, die darauf oft täuschend echt aussieht, wirken die dynamischen Darstellungen noch grobschlächtig und schwerfällig, wie ein Blick auf den Instagram-Account von Tribute Brand zeigt. "Die Technik muss aufholen! Snapchat, internationale Benchmark was Filter angeht, arbeitet auf Hochtouren an einer Verbesserung, welche wohl Ende dieses Jahres kommen wird. Perfektes Tracking ist der Schlüssel zu noch größerer Beliebtheit", prognostiziert Larosse von The Fabricant. Solche Augmented-Reality-Filter sind laut der Expertin aber nur der erste Schritt in Richtung einer technologischen Revolution, die digitale Kleidung unverzichtbar machen wird: das Metaversum.

Digitale Mode als Augmented Reality Filter zu tragen funktioniert noch nicht ganz makellos.

Hierbei handelt es sich quasi um die Weiterentwicklung des Internets – ein kollektiver Raum, der virtuelle und physische Elemente verbindet. Larosse sieht Fortnite als eine Art Betaversion davon und sagt: "In ein paar Jahren wird soziale Interaktion vermehrt im Metaversum stattfinden. Wir werden einen digitalen Zwilling, einen Avatar, haben. Diesen muss man natürlich anziehen. Das heißt, der Markt für digitale Mode wird riesig sein." Eine Frage wird aber auch vor dem digitalen Kleiderschrank bestehen bleiben: Was ziehe ich heute bloß an? (Michael Steingruber, 13.9.2021)