Menschen treffen im Justizpalast ein, um den Prozessbeginn mitzuverfolgen.

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Zahlreiche Polizisten sichern in Paris den Terrorprozess, für den ein eigener Gerichtssaal gebaut wurde. Schließlich müssen darin auch die rund 1.800 Zivilkläger Platz haben.

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Es ist derzeit sonnig und schwül in Paris – genau wie am 13. November 2015, als in der Stadt an mehreren Orten Bomben hochgingen und im Konzertlokal Bataclan 130 Menschen erschossen wurden. Jetzt beginnt im Justizpalast der Prozess gegen 20 Komplizen und Drahtzieher des schlimmsten Terroranschlags Europas der letzten zehn Jahre. Es sei schon vom Umfang, aber auch von der Intensität her ein "historischer" Prozess, sagt Gerichtspräsident Jean-Louis Périès zum Auftakt. Mehrere hundert Zivilkläger, Anwälte sowie ein paar Journalisten sitzen in einem Saal, der eigens für den Anlass gezimmert wurde.

Es ist angenehm kühl in dem langgezogenen Raum. Doch von seinem hinteren Teil, dort, wo die Opfer sitzen, sieht man die weit entfernten Angeklagten gar nicht hinter den spiegelnden Plexiglasscheiben. 14 Täter sind anwesend, sechs andere auf der Flucht oder tot. Allen werden terroristische Machenschaften vorgeworfen, worauf lebenslänglich steht. Einige sind kahl geschoren, andere haben sich in der Haft die Haare und einen Bart wachsen lassen.

Abdeslam im Mittelpunkt

Auch Salah Abdeslam, der Hauptangeklagte, der einzige Überlebende des Bataclan-Kommandos. Der heute 31-jährige Franzose marokkanischer Abstammung soll im Verlauf des fast neunmonatigen Prozesses erläutern, ob er den Selbstmordgürtel, den er damals angelegt hatte, nicht gezündet hat – oder ob dieser wegen eines Defekts einfach nicht losgegangen ist. Das könnte das Strafmaß beeinflussen. Doch wird Abdeslam bei seinem auf November angesetzten Verhör überhaupt aussagen?

Der Auftakt der Verhandlungen lässt daran zweifeln. Abdeslam steht zwar wie geheißen auf, um dem Gericht seine Personalien anzugeben. Aber nur, um zu deklarieren: "Ich bezeuge hier, dass es keine andere Gottheit als Allah gibt." Dann nennt er zwar seinen Namen, aber nicht die seiner Eltern: "Die haben hier nichts zu tun", sagt der heute bärtige Mann, von dem die Franzosen nur ein Fahndungsfoto mit einem glatt rasierten Bubengesicht kennen. Der Gerichtspräsident fragt weiter, doch Abdeslam schweigt. Erst auf die Frage nach seinem Beruf erklärt er einstudiert: "Ich habe meinen Beruf aufgeben, um ein Kämpfer des "Islamischen Staates" zu werden."

Das einzige Mal an diesem Nachmittag geht ein Raunen durch den Saal. Abdeslam distanziert sich nicht von seinen früheren Auftraggebern in Syrien, er bekennt sich offen zur Terrormiliz. Kenner behaupten, das tue er nur, weil er in seinen Kreisen als Feigling gelte, der nicht zum Selbstmordattentat fähig sei. Der Kriminologe Alain Bauer hatte vor Prozessbeginn erklärt, es bestehe das Risiko, dass Abdeslam das Gericht als Tribüne zur Selbstrechtfertigung missbrauchen werde.

Das wäre ein Affront für die vielen Opfer, die im Vorfeld erklärt hatten, sie kämen zum Prozess, um zu "verstehen". Was gibt es da zu verstehen? Zuletzt hatten Fernsehsender erschütternde Porträts von Opfern gebracht: Eine Frau erzählte, wie sie im Bataclan stundenlang und in Todesangst über ihrem exekutierten Gatten ausharrte; eine andere trat mutig auf, nachdem ihr ein Großteil der unteren Gesichtshälfte weggeschossen worden war, was ihr schon 40 Operationen beschert hat. Die meisten Überlebenden hegen Schuldgefühle, weil sie überlebt haben; anderen leiden auch sechs Jahre später unter anderen posttraumatischen Symptomen.

"Antwort der Demokratie"

Und sie, diese unschuldigen Zivilisten, sollen jetzt monatelang das IS-Gefasel eines radikalisierten Kleinkriminellen anhören? Die Zeitung Le Monde verteidigt den Prozess als "Antwort der Demokratie" auf den Terror. Auch Ex-Präsident François Hollande, der 2015 im Amt war und im November vor Gericht aussagen wird, hat erklärt, er ziehe den Rechtsstaat einem französischen "Guantanamo" vor.

Gerichtspräsident Périès bittet alle Beteiligten, bei dem Prozess "die Würde zu wahren". Die 14 anwesenden Angeklagten ruft er einzeln auf, nur auf Fragen zu antworten und sonst zu schweigen. Abdeslam scheint sich nicht betroffen zu fühlen; er schaut nur in die Leere, als ginge ihn das alles nichts an. (Stefan Brändle aus Paris, 8.9.2021)