Fußball-Gläubiger: Roland Spöttling hat mal Theologie studiert, seit über 20 Jahren ist er Sportclub-Platzsprecher.
Foto: Heribert Corn

Da sitzt er am Wiener Rochusmarkt beim Hendlstand, eine Dose Bier vor sich auf dem Bartisch und 150 Kilo auf dem Hocker. Ein paar Dosen hat er heute schon getrunken, und einen Toast hat er gegessen. Schwer vorstellbar, dass so einer dehydrieren kann, aber so war es vor vier Wochen, als für ein paar Tage alles auf der Kippe stand: Nierenversagen. Er schaffte es gerade noch, jeden Abend seine geliebte Oma in Salzburg anzurufen, aber dann machte er sich wieder Sorgen. Nicht um seine Nieren, sondern darum, dass er den Meisterschaftsbeginn der Regionalliga Ost versäumen würde. Neue Saison, erstes Heimspiel für seinen Sportclub. Roland Spöttling, 48, ist dort Platzsprecher. Seit 23 Jahren begrüßt er die Fans verlässlich mit "Liebe Fußballfreunde! Herzlich Willkommen!" Was sollten sie sich denken, wenn er nicht da wäre?

Gott sei Dank ging alles gut mit den Nieren, und so fährt er heute Abend wieder nach Hernals, wo die Viktoria aus Meidling zu Gast ist, deren Trainer heißt Toni Polster, Fußballgott. "Hoffentlich krieg ich ein Autogramm von ihm!", sagt Roland. Zuhause steht ein sehr voller Karton mit Präziosen: Einen Schal vom FC Maria Anzbach hat nicht jeder. Oder das Original Trainingsleiberl vom Rivaldo. Oft organisieren seine Freunde vom Sportclub bereits im Vorhinein Erinnerungsstücke für ihren Platzsprecher, so neulich beim Cupspiel gegen St. Andrä im Lavanttal.

Von Gott und Mittelstürmern

Zum Match bringt ihn wie immer Christl, 61-jährige Taxifahrerin mit 41 Jahren Berufserfahrung. Eigentlich fährt sie nur nachts, aber den Platzsprecher chauffiert sie zwei Mal im Monat zum Heimspiel. Auf der Fahrt redet Roli über Gott, nicht den Fußballgott, sondern den richtigen. Roli hat mal Theologie studiert, und als der legendäre Philosoph Karl Augustinus Wucherer-Huldenfeld im ersten Seminar seinen ersten Satz rausließ, da dachte Roli, er spinne: "Ein Pferd ist kein Pferd, sondern nur die Idee des Begriffs der exemplarischen Pferdheit." Heute weiß er natürlich, dass der Professor recht hatte, denn genauso verhält es sich mit Mittelstürmern.

Der blinde Platzsprecher fühlt sich gelenkt und beschützt von seinem Gott, geleitet und geborgen. Zuhause hängt ein Kreuz, das gesegnet ist, und steht ein Schutzengel, der auch gesegnet ist. "Wenn etwas nicht gesegnet ist, wos is es dann?", fragt er. An Gott glaubt Roli wie das Kind, das mit vier Jahren sein Augenlicht verlor. "Ärztepfusch!", sagt er ohne Bitterkeit. Gesehen hat er noch die Plattensammlung vom Opa, die er später auf 10.000 Scheiben ausbaute. Der Opa hörte "Bubi, Bubi nocheinmal" oder "Pudelnackert ohne Hemd". Zusammen mit der Oma hat er ihn in Salzburg aufgezogen, fünf Minuten vom Stadion in Lehen entfernt: "Rettensteiner, Winkelbauer, Breitenberger, Schurl Wimmer ..."

Bei der Friedhofstribüne macht Roli im ehemaligen ORF-Kammerl die Ansagen.
Foto: Heribert Corn

Sie spielten damals für die Austria, und Roli kann sie alle beim Namen nennen. Er hat sich hunderte Spiele angeschaut, von der Toto-Liga bis zur Champions League, und ja: Er selbst sagt "Angeschaut".

"Wenn ich zu einem sag, ich hab mir ein Spiel angehorcht, fragt er mich erst recht, ob ich deppert bin!" Als "sieht" er bei Spielen selbstverständlich selbst, wenn der Schiri "ein Blinder" ist. Mit politischer Korrektheit braucht man ihm nicht kommen, "weil die, die den Negerkönig aus der Pippi Langstrumpf ausse tuan, kümmern si net um die wichtigen Themen." Themen wie "Fight Sexism, Homophobia, Racism & Intolerance!", die sich der Sportclub auf die Fahnen geschrieben hat.

Christl lenkt das Taxi hinter die Friedhofstribüne, wo Roli seinen Körper zum Eingang wuchtet. Der Sportclub, das ist eine andere "Familie" als die des Kanzlers. Jeder kennt Roli, jeder grüßt ihn, jeder mag ihn. Na gut, manchen geht er auf die Nerven, das gibt er selbst zu. Die unterstellen ihm dann, dass er gar nicht blind wäre. Oder sie werfen ihm vor, dass er eigentlich Rapidler ist. Da war er früher nämlich mal Platzsprecher bei den Amateuren, als Helge Payer noch dort spielte. Platzprecher wurde er am LAC-Platz, als die dort gegen die Helfort aus Ottakring spielten. "Ich hab mich fürchterlich aufgeregt, weil sie die Namen der Spieler so undeutlich durchgesagt haben". Die Ottakringer ließen ihn die Durchsagen fortan selbst erledigen, und von dort kam er schließlich nach Hernals.

"Ich sag' immer, ich hab' mir ein Spiel 'ang'schaut'. Wenn ich 'ang'horcht' sagen würde, dann glaubt ja jeder, ich wär deppert!"

Stadionsprecher Roland Spöttling

"Drin ist er, Gnä Frau!"

Nun quält er sich die Treppe hinauf in sein Kabuff links der Friedhofstribüne. Dort war früher das ORF-Kammerl, als der Klub noch höherklassig war und die Spiele im TV gezeigt wurden. Bernd, der Geschäftsführer des Vereins, wird für Roli das Spiel beobachten. Der hat sich eine frische Dose Bier auf den Tisch gestellt. Er stellt die Stadionuhr auf Null und den Spielstand auf Null, dann prüft er das Mikro. Nach dem Anpfiff ruft er wie jeden Tag in aller Ruhe seine Oma an. Als die Valencia 2015 am Sportklubplatz spielte, war sie das lezte Mal bei ihm im Stadion, heute ist sie 95.

Mit seiner Blindenschreibmaschine hämmert Roli die Mannschaftsaufstellungen auf zwei Zetteln, Paul liest sie ihm vor. Wer wissen möchte, wie international Wien mittlerweile ist, der höre sich die Aufstellung der Viktoria an. Paul: "Mit der Nummer 7 Jordan Oluwakayode Akande." Roli: "Wooos? Wia haaßt der?" Stress kennt Roli aber trotz schwierig auszusprechender Namen nicht, und fad wird ihm schon gar recht nie. Fällt mal kein Tor, dann gibt es Auswechslungen durchzusagen, oder er ruft die Eltern verloren gegangener Jungfans aus. Heute aber klingelt es schon nach 13 Minuten, und sofort reagiert er auf den Jubel von der Tribüne: "Drin ist er, Gnä Frau! Wer war's?" – "Der Siebener!", ruft Bernd. "Der Pajaczkowski?" – "Ja! Sag ihn durch!"

Roli nimmt noch einen großen Schluck Bier, dann dreht er sich zum Mikro und tut, was er am liebsten tut: "Liebe Fußballfreunde!", ruft er. "Das war ein Toooooooooor ..." Den langen Torschrei (16 Sekunden) hat er sich bei den Reportern aus Südamerika abgehört bzw. eben doch: abgeschaut. Denn Roland Spöttling ist der einzige Blinde, der tatsächlich sehen kann. An zwei Abenden im Monat für 90 Minuten, wenn er die Heimspiele seines Wiener Sportclubs kommentiert. (Manfred Rebhandl, 9.9.2021)